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Sozialer Wohnungsbau am Kotti kann teurer sein als nicht geförderte Wohnungen.
© Doris Spiekermann-Klaas

Gentrifizierung: Kreuzberg will die Weltrevolution

Buch- und Filmpremiere: In SO 36 geht der Kampf gegen Kapital und Immobilienhaie weiter. Die Gentrifizierung war schon im sozialen Wohnungsbau der 80er angelegt.

Das alte Kreuzberg lebt, möchte man meinen, wenn man dieser Tage in SO 36 unterwegs ist. Am Kottbusser Tor stellte am Mittwoch ein Autorenkollektiv um den Soziologen Andrej Holm „Die Legende vom sozialen Wohnungsbau“ vor. Am Donnerstagabend hatte der Dokumentarfilm „Die Stadt als Beute“ im Freiluftkino Kreuzberg Berlin-Premiere. In der Langzeitdokumentation begleitet der Filmemacher Andreas Wilcke vier Jahre lang Makler, Investoren und Käufer bei der „Schnäppchenjagd“ auf dem Berliner Wohnungsmarkt.

Sozialer Wohnungsbau klingt erst mal gut. Dass das Fördersystem dazu taugt, langfristig niedrige Mieten zu garantieren, glauben die Autoren Andrej Holm, Ulrike Hamann (Berliner Institut für Empirische Integrations- und Migrationsforschung) und Sandy Kaltenborn (Mietergemeinschaft Kotti & Co) jedoch nicht. Preiswert seien die Mieten zu keinem Zeitpunkt gewesen, teurer als im Altbau auf jeden Fall. Es sei vielmehr darum gegangen, „Investitionen in den Wohnungsbau für Kapitalanleger so attraktiv zu machen, dass sie dort einsteigen“, sagt Holm.

Tatsächlich befanden sich 2014 von den noch existenten 135.000 Einheiten aus dem sozialen Wohnungsbau in der Stadt fast zwei Drittel in der Hand von privaten Eigentümern und Unternehmen, heißt es in der „Legende vom sozialen Wohnungsbau“. Die Zahlen sind im Wohnungsmarktbericht 2015 der Investitionsbank Berlin Brandenburg (IBB) belegt. Nicht verwechseln sollte man diese Wohnungen übrigens mit dem Bestand der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften, die inzwischen auch wieder neu bauen. Für solche Gesellschaften schlagen die Grünen die Wiedereinführung der Gemeinnützigkeit und damit der Steuerbefreiung vor.

Schon in den 80ern hätte man es besser wissen können

Gewarnt vor überteuerten Mieten im sozialen Wohnungsbau hatte schon 1982 das „Abschreibungs-Dschungelbuch“. Ein Comic daraus ist auch in der Neuerscheinung abgebildet. Im Zeichenstil des legendären Szene-Karikaturisten Seyfried ist eine Demo zu sehen. Die Menschen halten Schilder hoch, auf denen steht: „30 DM für einen Quadratmeter – ihr spinnt wohl!“ Genau so ist es mancherorts gekommen. Wie, das kann Andrej Holm als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Humboldt Universität und Experte für Gentrifizierung genau auseinanderdefinieren.

Andrej Holm beschäftigt sich als Soziologe an der Humboldt-Universität mit Gentrifizierung.
Andrej Holm beschäftigt sich als Soziologe an der Humboldt-Universität mit Gentrifizierung.
© Thilo Rückeis

Schuld war die fehlende Kostenkontrolle, meint er. Wer noch an die Legende von sozialen Wohnungsbau geglaubt hat, kann im Heft nachlesen, dass der Subventionsbetrag damals auf Kostenschätzungen beruhte. Aus den hohen Baukosten resultierten dann auch die hohen sogenannten Kostenmieten. Die Differenz zu den Sozialmieten zahlte das Land.

Zweiter Kritikpunkt: Die Wohnungen fallen nach rund 20 Jahren aus der Preisbindung – und unterliegen dann qua Gesetz nicht dem Mietspiegel. Für teures Geld erkauft sich der Staat also nicht einmal dauerhaft günstige Mieten. Holms Fazit: „Die befristete Bindung ist der pure Wahnsinn.“

Vorbild Salzburger Modell

Die gut 100 Besucher der Buchvorstellung in einem ehemaligen Aquarienladen am Kottbusser Tor nehmen das alles gelassen, diskutieren zivilisiert. Aber der alte Kampfgeist ist noch da: „Einen wirklich sozialen Wohnungsbau wie er in Österreich seit 100 Jahren Sache ist“, fordert eine ältere Dame. So wie im Salzburger Modell.

In Salzburg haben sie nämlich einen revolvierenden Fonds aufgelegt, der von einer gemeinnützigen Bank verwaltet wird. Sie vergibt Wohnungsbaukredite zu geringen Zinsen und mit langfristiger Bindung. Die Mieteinnahmen fließen in den Fonds zurück und werden für neue Projekte genutzt. Traumhaft günstige Mieten von fünf Euro pro Quadratmeter sind auf diese Weise in Salzburg möglich.

So ein Fonds könnte doch auch bei der IBB angesiedelt sein, überlegen die Zuhörer in den ehemaligen Geschäftsräumen von „Aquarien Meyer“. Warum das in Berlin nicht möglich sei? „Politik, Bauwirtschaft und Banken sind relativ eng verwoben“, sagt Holm und nennt das eine „Immobilienverwertungskoalition“. Damit einher gehe eine Marktgläubigkeit und die tiefe Überzeugung, dass man die Stadt nicht ohne privates Kapital entwickeln könne.

Außerdem trage das Land Berlin seine 64 Milliarden Euro Schulden wie eine Monstranz vor sich her. Andrej Holm referiert: Um Schulden abzubauen, habe der Senat mit der vorfristigen Ablösung von Darlehensverpflichtungen im sozialen Wohnungsbau schneller als erwartet Cash gemacht – um den Preis, dass die Wohnungen dann auch eher aus der Mietpreisbindung fielen.

Der Abend geht mit einem Glas Sekt auf die Neuerscheinung entspannt zu Ende. Vielleicht auch deshalb, weil sie hier wissen, was sie bewegen können: Die Mietergemeinschaft Kotti & Co war mitbeteiligt am Mietenvolksentscheid, der dem Senat das Wohnraumversorgungsgesetz abgetrotzt hat. Seitdem können Mieter einen Zuschuss bekommen, um ihre Miete auf 25 bis 30 Prozent des Einkommens zu begrenzen.

"Wir sind bloß arm, nicht sexy", sagt der Rentner aus Prenzlauer Berg

Stadtbild aus dem Film von Andreas Wilcke. Berlin ist mit einer Geschwindigkeit im Wandel, die viele sozial Schwache finanziell überfordert.
Stadtbild aus dem Film von Andreas Wilcke. Berlin ist mit einer Geschwindigkeit im Wandel, die viele sozial Schwache finanziell überfordert.
© Wilcke-Film

Die Weltrevolution kommt am Donnerstagabend im Freiluftkino Kreuzberg am Bethanien ins Spiel. Was er denn mit seinem Film erreichen wollte, wird der Regisseur von „Die Stadt als Beute“ gefragt. „Na, die Weltrevolution“, sagt Andreas Wilcke. Eine Antwort mit Augenzwinkern, die großen Applaus bekommt.

Bis auf wenige Ausnahmen erscheinen die Investoren, Projektentwickler und Makler in „Die Stadt als Beute“ gar nicht mal unsympathisch. „Wenn mir da jemand gegenübergesessen hat, habe ich nie gedacht: Dich mach’ ich alle“, sagt Wilcke.

Die Verzweiflung der Mieter, die aus ihren Wohnungen vertrieben werden, konnte er trotzdem einfangen. Ein Gesicht gibt ihnen eine Schönebergerin, die schon zum zweiten Mal entmietet wurde und voller Wut eine feine Podiumsdiskussion im getäfelten Saal sprengt. Stiller sind die beiden Rentner aus Prenzlauer Berg. Der eine muss 700 Euro Miete zahlen – bei 1000 Euro Rente – und sagt: „Dafür können wir uns nüscht koofen, dass Berlin arm, aber sexy ist. Wir sind bloß arm, nicht sexy.“

"So geht’s in dieser Stadt nicht"

Lösungen bietet Andreas Wilcke nicht an, er beschreibt nur. Ein Vorbild ist für ihn der Film „Network“ von Sidney Lumet. Es geht darin um einen Fernsehmoderator, der entlassen wird und die Zuschauer beim letzten Auftritt vor der Kamera auffordert, am Abend um 10 Uhr die Fenster aufzureißen und zu rufen: „Ich hab die Schnauze voll, ich lass’ mich nicht länger verarschen.“ Als er dann abends mit Whiskey zu Hause sitzt, reißen tatsächlich alle Nachbarn die Fenster auf und schreien hinaus, dass sie sich nicht länger verarschen lassen.

Da weht er wieder, der Geist von Kreuzberg, dass viele Kleine zusammen etwas Großes erreichen können. Als das Licht angeht, ruft noch jemand vom Bündnis MietenStopp zur Demo am 10. September auf. „Um dem internationalen Spekulationskapital zu sagen: So geht’s in dieser Stadt nicht.“ Doch erstmal geht’s nach Hause.

In einer Veranstaltung der Mietergemeinschaft Kotti & Co nehmen die Kandidaten von fünf Parteien am Dienstag, 6. September um 18 Uhr zur Wohnungspolitik Stellung. Der Wahlprüfstein findet statt am Protestbau südliches Kottbusser Tor/Admiralstraße, bei schlechtem Wetter im ehemaligen „Aquarien Meyer“ in der Skalitzer Str. 6.

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