Co-Housing: Ja, wo leben sie denn?
Co-Housing-Projekte bieten Wohn- und Arbeitsgemeinschaften in der Anonymität der Großstadt.
Eigentlich geht es ihm gut: tolle Wohnung, schickes Auto, finanziell abgesichert und eine Tochter, die ihn regelmäßig besucht. Dennoch fühlt sich Frank Schulz, der eigentlich anders heißt, oft einsam: „Meine Frau und ich sind damals voller Enthusiasmus nach Berlin gezogen, aber unsere Ehe hat den Wechsel in die Großstadt nicht überlebt“, erzählt der gebürtige Niedersachse. „Mit unserer Scheidung sind auch die Freundschaften zu anderen Pärchen zerbrochen.“ Anderswo Anschluss zu finden, fällt dem 52-Jährigen schwer. „Berlin ist einfach sehr cool und anonym. Hier bleiben die Leute lieber für sich.“
Die Anonymität der Großstadt, die viele Zugezogene schätzen, weil sie sich für ihre Lebensweise vor niemandem rechtfertigen müssen, ist für andere ein Problem. „Einsamkeit ist ein Gefühl, das vor allem in der Stadt als belastend empfunden wird“ sagt Mazda Adli. Er ist Chefarzt der Fliedner Klinik Berlin, einer Ambulanz und Tagesklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, und spezialisiert auf Großstadtstress. „Es entsteht, wenn man sich den Menschen um einen herum nicht zugehörig fühlt. Am stärksten ist daher die Einsamkeit, die man in der Masse erlebt, wenn man von lauter Unbekannten umgeben ist.“
Ändern sollen das neue städtische Wohn- und Arbeitsformen für mehr Miteinander. So haben visionäre „Lebensraum-Experten“ zum Beispiel das Konzept des Co-Housing entwickelt. Die Idee des gemeinschaftlichen Wohnens und Arbeitens unterschiedlicher Menschen unter einem Dach soll im reformfreudigen Skandinavien erdacht worden sein und wird auch in den USA begeistert gelebt. Das Ziel: mehr Miteinander und weniger Ressourcenverschwendung. Dass sich das Modell auch schon in europäischen Städten wie Amsterdam, Brüssel und Mailand etabliert hat, zeigt die Onlineplattform Cohousing Cultures.
Ein bisschen wie die Kommunen der 1970er Jahre
Die Idee erinnert ein bisschen an die Kommunen der 1970er Jahre: Bürger planen, finanzieren, bewirtschaften und bewohnen gemeinsam ein Haus – oder arbeiten dort gemeinsam. Dementsprechend gibt es einige größere Gemeinschaftsräume, manchmal auch Gärten, und viele kleine Wohnungen oder Büros. Interessierte Gäste und Nachbarn sind in manchen Projekten ebenfalls willkommen.
Auch in Berlin demonstrieren verschiedene Initiativen, wie vielfältig die Nutzungsmöglichkeiten für Gemeinschaftshäuser sind. So haben zwei Brasilianer in Neukölln das Künstlerhaus „Agora Collective“ gegründet, das internationalen Künstlern die Gelegenheit bietet, unter einem Dach zu arbeiten und sich auszutauschen. Für Studenten ist in Treptow- Köpenick das Containerdorf Plänterwald errichtet worden. In Charlottenburg bietet das Co-Living-Projekt „Lebensort Vielfalt“ eine gemeinsame Unterkunft für homosexuelle Männer. Und die Studenten der Kunsthochschule Weißensee haben das Co-Gardening-Projekt „Bermudagarten“ ins Leben gerufen, in dem Flüchtlinge und Einheimische Hand in Hand gärtnern.
Eine Co-Housing-Idee, die das gemeinsame Leben, Arbeiten und Gärtnern verbindet, ist das „Spreefeld“ am Kreuzberger Spreeufer. Das Wohnprojekt besteht aus drei barrierefreien Häusern, die Platz für rund 130 Menschen bieten. Die Mieter sind Anteilseigner einer Genossenschaft, die das Projekt gebaut hat und selbst verwaltet.
Die Grundrisse sind so variabel, dass sie sowohl separate Wohnungen für Alleinstehende als auch Wohngemeinschaften für rund 20 Personen zulassen. Ein eigenes Blockheizkraftwerk sorgt für die benötigte Energie. In den Erdgeschossen befinden sich Büro- und Gemeinschaftsräume. Sie stehen – ebenso wie ein Gemeinschaftsgarten und ein geplanter Uferweg – auch den Bewohnern der Umgebung offen.
Gemeinsam wohnen – das ist ein Thema von "Make City"
„Unser Modell der Selbstorganisation lädt zum Einbringen eigener Träume ein, aber auch zum Investieren von Zeit und Energie“, sagt Michael LaFond. Der Architekt aus Seattle betreibt in einem der Häuser sein Institut für kreative Nachhaltigkeit und wohnt in der dortigen 21-köpfigen WG. „Uns ist wichtig, dass das Projekt niemals abgeschlossen ist, sondern kontinuierlich weiterentwickelt wird.“ Co-Housing bedeutet für ihn nicht nur Wohlfühlen, sondern auch Engagement, Toleranz und Kompromissbereitschaft: „Verständigung ist nur durch viel Diskutieren möglich“, sagt er. Dafür trifft sich der Vorstand täglich; außerdem gibt es verschiedene Arbeitsgruppen.
Das wäre dem Single Frank Schulz bei aller Einsamkeit dann doch zu stressig: „Neben der Arbeit noch am Hausprojekt zu arbeiten und mich mit Mitstreitern auseinanderzusetzen, dafür fehlt mir ganz einfach die Energie“, sagt der kaufmännische Angestellte im Öffentlichen Dienst. Dem Spreefeld mangelt es dennoch nicht an Interessenten. Vor allem junge Leute finden das innovative Projekt im szenigen Kreuzberg spannend – können sich die Genossenschaftsanteile für eine Eigentumswohnung aber nur selten leisten. Die meisten Anteilseigner sind Unternehmer und Selbstständige mittleren Alters aus der Kreuzberger Umgebung, davon rund ein Drittel Singles.
Gemeinsam wohnen, arbeiten, gestalten – das ist auch ein Thema von „Make City“, dem „Festival für Architektur und Andersmachen“, das noch bis zum 28. Juni in Berlin stattfindet. Zum ersten Mal laden mehr als 100 Partner aus der Stadt- und Kreativwirtschaft Fachleute und interessierte Bürger zu Veranstaltungen, Führungen und Ausstellungen ein.
Am vergangenen Sonnabend präsentierte sich das „Spreefeld“. Der „Bermudagarten“ in Weißensee öffnet heute, am Weltflüchtlingstag, zwischen 11 und 17 Uhr seine Beete und lädt zur Diskussion mit Initiatoren, Flüchtlingen und Nachbarn ein. Und am morgigen Sonntag, dem 21. Juni, kann man um 14 Uhr das Mehrgenerationen-Mietwohnprojekt „Alte Schule Karlshorst“ entdecken: 60 Menschen aller Altersgruppen leben dort in den zu Wohnungen umgebauten früheren Klassenräumen.
Wie reagiert die Wohnungswirtschaft?
„Co-Housing-Projekte setzen darauf, die soziale Unterstützung und Kooperation zwischen den Bewohnern zu stärken“, sagt Stressforscher Mazda Adli. „Häufig sprechen sie Menschen an, die vielleicht eine dörfliche Idylle oder ein modernes und nachhaltiges Gemeinschaftswohnerlebnis suchen.“ Diejenigen, die unter „echter“ oder auch gefährlicher Einsamkeit litten oder sich sozial ausgegrenzt fühlten, wie etwa alte, einkommensschwache Menschen oder Migranten, würden dadurch aber leider kaum erreicht.
Und die Wohnungswirtschaft? Stellt sie sich mit neuen Wohnlösungen auf die „Versingelung“ Berlins ein? David Eberhart, Sprecher des Verbands Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen, winkt ab: Die Anzahl der Einpersonenhaushalte sage nichts über Einsamkeit aus. Zwar sei bekannt, dass kleine, bezahlbare Wohnungen fehlten, doch der langfristige Bedarf sei schwer zu ermessen. „Da hat man sich schon einmal getäuscht und zu kleine Wohnungen gebaut, die später keiner mehr haben wollte. Außerdem betrifft die versingelte Gesellschaft eher jüngere Leute, die früher oder später doch auch Familien gründen“, sagt Eberhart.
Seine Erfahrung: „Die Leute organisieren sich lieber selbst. Erzwungene Gemeinschaftsflächen wie Plätze als Begegnungsorte werden oft gar nicht angenommen. Es sei denn, es stehen soziale Betreiberkonzepte dahinter.“ Für ihn werden alternative Lebensformen wie Co-Housing oder Senioren-WGs die Ausnahme bleiben. Denn: „Selbst Singles machen ganz gerne ihre Tür hinter sich zu.“
Mehr im Internet:
cohousing-berlin.de
cohousing.org
cohousing-cultures.net
spreefeldberlin.de
makecity.berlin
Claudine Hengstenberg