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Neben dem alten Kornversuchsspeicher wächst ein Kran nach dem anderen in den Himmel. 
© Christian Kruppa

Neues Quartier am Hauptbahnhof: Europacity - ein Fremdkörper mit Potential

Ein neues Quartier muss nicht nur gebaut werden, erklärt der Vorstandvorsitzende der Bundesstiftung Baukultur, Reiner Nagel. Man muss es auch mit Leben füllen.

Nachhaltigkeit ist ein Begriff, der immer wieder mit der Europacity in Verbindung gebracht wird. Dabei geht es aber um mehr als nur die ökologischen, ökonomischen und sozialen Komponenten, die heute zum Standardrepertoire moderner Architektur gehören. Denn in der Quartiersentwicklung sind auch ästhetische und emotionale Dimensionen prägend.

Baukultur spielt eine entscheidende Rolle in der Schaffung einer Umwelt, die wir als lebenswert empfinden. Wie man nach den Maßstäben der Baukultur die Europacity bewerten kann, erklärt Architekt und Stadtplaner Reiner Nagel, der seit Mai 2013 Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung Baukultur ist.

Die Europacity ist als „nachhaltiges Quartier“ geplant. Welchen baukulturellen Beitrag kann und wird diese Quartiersentwicklung für Berlin leisten?

Das Quartier Heidestraße schafft auf der Ebene von Stadtentwicklung und Städtebau die Integration des Hauptbahnhofs in die Stadt. Das Stichwort Nachhaltigkeit umfasst dabei heute immer die Themen Mobilität und Gebäudetechnik. Hier erfüllt die Europacity sicher gute Standards. Beim Thema baukultureller Nachhaltigkeit geht es darüber hinaus um Dichte, Mischung, Vielfalt und Kleinteiligkeit, aber auch gestalterische Qualität sowie Planungs- und Prozesskultur.

Hier zeigen einige Vorzeichen in die richtige Richtung: Die Nahraummobilität für Fußgänger und Radfahrer ist gut, belebbare Erdgeschosszonen sind machbar oder der Umbau der Heidestraße selbst von einer Durchgangsstraße zum künftigen Stadtboulevard ist jetzt schon erkennbar.

Der Planung und Entwicklung liegt der Masterplan Heidestraße zugrunde. Schritt für Schritt sollen in den sechs Teilbereichen des Quartiers einzelne Gebäude und Grünflächen entstehen. Wie kann man diese Teilbereiche bzw. den Masterplan bewerten und welche individuellen Vorhaben sind aus baukultureller Sicht besonders wertvoll und vielleicht sogar beispielgebend für andere Quartiere?

Da bin ich natürlich befangen, weil ich seinerzeit das Masterplanverfahren in der Senatsverwaltung geleitet habe. Uns ging es darum, nicht tabula rasa zu machen, sondern den neuen Stadtteil aus der Identität des Ortes und seiner Teilbereiche heraus zu entwickeln – dem Kunstcampus, den Bestandsbauten an der Heidestraße, dem letzten Speicher am Spandauer Schifffahrtskanal und natürlich der Lage am Wasser selbst. Ich glaube, dass diese strukturierenden Elemente der Teilquartiere in Zukunft ihre positive Wirkung entfalten werden, das ist heute schon spürbar.

Das ist sicher auch beispielgebend für andere Quartiersentwicklungen: so viel wie möglich Bestand halten um an die Wurzeln anzuknüpfen. Das betrifft auch die Infrastruktur und war ausschlaggebender Grund dafür, die Heidestraße selbst nicht an den Rand des Gebietes zur Bahn zu legen, sondern zum Rückgrat des neuen Stadtteils zu entwickeln.

Zahlreiche kritische Stimmen nehmen die Europacity als Fremdkörper in der Stadt wahr. Quartiere – insbesondere neue Quartiere – können und sollen nicht wie ein Raumschiff irgendwo landen, sondern gliedern sich idealerweise ein. In der Europacity ist das eine Herausforderung. Wie kann es dennoch gelingen, die Zäsur, die hier noch ist, zwischen Ost und West, zwischen Mitte und Moabit, zu überbrücken?

Durch normales Leben. Natürlich ist das Gebiet jetzt noch ein „Fremdkörper“, weil es neu ist, noch nicht fertig und das früher jahrzehntelang unbekanntes Terrain war – mitten in der Stadt. Jetzt öffnen sich demnächst neue Wegeräume und viele werden verblüfft sein, wie nah Moabit und Wedding am Hauptbahnhof liegen und umgekehrt. Oder dass es eine neue Uferpromenade am Spandauer Schifffahrtskanal gibt, mit neuen Wohnungen am Wasser.

Aus Sicht der Baukultur geht es darum, das Echte zu schaffen, nicht das Künstliche. Wenn die Heidestraße in fünfzig Jahren ein normaler Stadtteil ist, in dem man gerne wohnt, arbeitet, Kultur oder ein Feierabendbier genießt, dann ist die Integration ins Stadtgefüge gelungen. Ich glaube, dass dies durch die Strategie der Teilquartiere und den robusten Städtebau mit der Gliederung in private und öffentliche Räume eher wahrscheinlich ist, als das man dann noch von einem Raumschiff aus der Jahrhundertwende spricht.

Welche Rolle spielen der öffentliche Raum und die soziale Infrastruktur für die Akzeptanz und den „Erfolg“ des Quartiers?

Eine sehr große und das ist auch die wichtigste Handlungsebene in Verantwortung der öffentlichen Hand. Das Gebiet Heidestraße ist nur 40 ha große und zwischen Bahntrasse und Kanal sehr schmal. Den öffentlichen Räumen kommt deshalb die Aufgabe zu, den Stadtteil vom Transfer- zum Aufenthaltsraum zu machen. Da kommt es auf qualitätsvolle Querbezüge in die zweite Reihe durch Wege, Promenaden und Plätze an. Bedauerlich ist, dass schon sehr früh das geplante zentrale Hafenbecken der Kosteneinsparung zum Opfer gefallen ist.

Alles war klar, sogar das Bundeswasser- und Schifffahrtsamt hatte schon zugestimmt. Damit fehlen der Kristallisationspunkt und die Attraktion des Stadtteils. Die zweitbeste Lösung ist jetzt stattdessen der zentrale grüne Platz. Die Lehre daraus ist, dass sich die Stadt für dieses Modellvorhaben noch stärker hätte engagieren müssen – durch den Kauf oder Zwischenerwerb der Flächen und ein verantwortliches Entwicklungsmanagement. Dann wäre mehr Kleinteiligkeit und Mischung möglich gewesen. Aber damals war Berlin noch nicht so weit – heute vielleicht auch noch nicht. Und wie gesagt, das Ergebnis gehört aus Sicht der Baukultur unter den bundesdeutschen „Europacities“ zu den besseren.

Das Interview führte Tong-Jin Smith.

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