Rundgang durch die "Europacity": „Es ist ein wirklich schönes Quartier“
Am Hauptbahnhof wird eine Stadt in der Stadt gebaut. Senatsbaudirektorin Regula Lüscher weißt die Kritik an der Planung der Europacity zurück.
Vor drei Jahren war hier vor allem eine Brache zu sehen, auf der sich eine „Total“-Tankstelle, einige wenige Häuser und der alte Kornversuchsspeicher neben dem Berlin-Spandauer-Schifffahrtskanal verloren. Das Bild hat sich komplett gewandelt. Zwar sind die Räume der Europacity vor allem noch als Baustellen zu erleben. Sie lassen aber schon erahnen, was dies für ein Quartier wird – oder werden könnte. Denn in diesem Frühjahr werden zunächst einmal noch weitere Grundsteine gelegt – für die Gebäudeensembles QH Track (Büros) und QH Spring (Wohnungen, Hotel und Kita). Für das dritte Quartal ist dann das Richtfest von QH Core geplant. Das ist das Nahversorgungszentrum mit Wohnungen und Büros im Zentrum des Quartiers.
An der Gesamtplanung gibt es viel Kritik. Beklagt werden uniforme Gestaltung der Fassaden und ein Mangel an Urbanität. Kritiker zeichneten das Gemälde einer abgehängten Schlaf- und Bürostadt vor den Toren des Hauptbahnhofes. Ist dem so? Oder erleben wir ein Déjà-vu wie im Vorfeld der Fertigstellung des Potsdamer Platzes?
Wir schauen uns das Quartier Heidestraße mit seinen rund 268 000 Quadratmetern Bruttogrundfläche mit Senatsbaudirektorin Regula Lüscher einmal aus der Nähe an. Passt die Europacity in die Stadt, wird sie ein schönes neues Stück Berlin, das die relais Landschaftsarchitekten versprachen und damit den international ausgeschriebenen Wettbewerb für das Gelände gewannen?
Verabredet sind wir vor dem Restaurant von Reinhard Bär in unmittelbarer Nähe des Hamburger Bahnhofs, dem bei gräuslichem Wetter einzig wirtlichen Ort. Zwar hat das 40 Hektar große Gelände zwischen Hauptbahnhof und Nordhafen nicht mehr den zweifelhaften Charme aufgelassener Hafenanlagen, durch den es noch 2016 bestach. Doch noch immer ist es hier laut vom Verkehr, vom Baulärm und ziemlich leer.
Alles "etwas problematisch"
„Das Bär ist das bisher einzige Restaurant im Bereich des Business-Centers und Kunst-Campus“, sagt Lüscher. Man kann mit ihr nur auf mehr gastronomische Angebote dieser Art hoffen. Denn der Hauptbahnhof dürfte für die rund 11 000 Menschen, die hier einmal arbeiten werden, und jene 6000, die hier dann leben, keine echte Alternative sein.
Behördlich vorgeben lassen sich die Nutzungen der einzelnen Stockwerke aber nicht. „Es ist immer etwas problematisch mit den Nutzungen der Erdgeschosswohnungen zum Wasser hin“, sagt Lüscher: „Hier hätten wir lieber öffentliche Nutzungen. Aber das einzige, was wir tun können, ist zu sagen: Wir wollen überhohe Erdgeschosse. Wir versuchen die Hochparterre-Lösungen zu reduzieren. Es ist aber ein harter Kampf.“ Auf der Westseite sei das mit Thomas Bergander, dem Geschäftsführer der Taurecon Real Estate, besser gelungen, „mit CA Immo war das etwas schwieriger“.
Während man in dieser Hinsicht also hoffen und auf die Entwicklung der Europacity vertrauen darf, gibt es für eine wirkliche soziale Mischung diesseits der Heidestraße kaum Chancen. Das Areal wurde geplant ehe die kooperative Baulandentwicklung zunächst Vorschrift und später im Munde aller Baustadträte der Bezirke war.
„Wir haben insgesamt 300 000 Quadratmeter Wohnfläche; von den darauf gebauten und noch zu bauenden 3000 Wohnungen sind zirka 270 mietpreisgebunden“, sagt Lüscher: „Diese befinden sich fast alle aber nur auf der vom Hauptbahnhof aus gesehenen linken Seite. Auf der anderen Seite der Heidestraße hatten wir dazu rechtlich leider kaum Möglichkeiten.“
Der schöne Park am Nordhafen wird genau wie das neue Wohnviertel im benachbarten Wedding einen erheblichen Investitionsdruck und eine neue Gentrifizierungswelle auslösen; Eigentumswohnungen verkaufen sich trotz hoher Kaufpreise wie von selbst.
Heute wird hier alles neu
Die Geschichte hat hier wenig Spuren hinterlassen, von der Kopfsteinbepflasterung hier und dort einmal abgesehen. Sie kündet noch davon, dass das Areal östlich und westlich der Heidestraße über siebzig Jahre lang einer der größten Eisenbahnstandorte und Güterumschlagsplätze Berlins war. Diese Zeit begann mit dem Bau des Hamburger Bahnhofs 1846/47 und des Lehrter Bahnhofs 1868. Etwa zeitgleich wurde der Pankegraben zum Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal ausgebaut und der Nordhafen in Betrieb genommen. Das war anno 1858.
Heute wird hier alles neu, seit 2006 wird intensiv an der Entwicklung der Europacity gearbeitet. Die städtebauliche Neuordnung begann mit einem städtebaulichen Realisierungswettbewerb. Es ging um lange Perspektiven, klug arrangierte Wege und Brücken für Fußgänger und Fahrradfahrer. „Wir haben für alle Gebäude Wettbewerbe durchgeführt“, erklärt Lüscher. „Dabei haben wir überall begrünte Dächer gefordert.“ Ob sie tatsächlich entstehen?
Leicht abgestufte Terrassen sollen einmal luftige Gefühle machen, wenn das große Grau der Berliner Winter vorbei und das Quartier einmal fertig ist. Wenn die Zeit des Latte Macchiato im Freien wieder beginnt.
„Die Kritik, dass es zu wenig öffentliche Räume gibt, kann ich nicht nachvollziehen“, sagt Lüscher für ihre Verhältnisse entschieden. Und sucht gleich nach einem Beleg: „Der Otto-Weidt-Platz ist ein sehr großer Platz. Er hat die Länge des Gendarmenmarktes.“
Anbindung noch nicht geklärt
Die Ost-West-Ausdehnung der Europacity liegt bei etwa 340 Metern, die Nord-Süd-Ausdehnung bei zirka 1,3 Kilometern. Ganz schön lang, wenn man vom Hauptbahnhof gesehen am anderen Ende wohnt. Die Deutsche Bahn baut derzeit zwar die neue S-Bahnlinie 21. Und im ersten Abschnitt wird im Zuge der Planungen eine Verbindung zwischen den Bahnhöfen Gesundbrunnen und Hauptbahnhof geschaffen. Doch ob in der Europacity noch einmal Halt gemacht wird, ist noch nicht entschieden. Sollte aber. Denn der nachträgliche Einbau eines Bahnhofs dürfte kaum realisier- bzw. bezahl- und planbar sein.
„Ein S-Bahn-Halt Perleberger Brücke wird von der Verkehrsverwaltung geprüft“, sagt Lüscher. „Es wären dann 1,2 km zwischen zwei S-Bahn-Halten, damit wäre eine gute Erreichbarkeit gewährleistet. Notwendig ist dazu eine Kosten-Nutzen-Analyse und eine Bestellung des zusätzlichen S-Bahnhofs. Mit Blick auf eine Feinverteilung der Verkehre in die Wohngebiete hinein müssen wir uns noch etwas einfallen lassen – eine Seilbahn vielleicht nicht, aber Elektromobilität, zum Beispiel.“
Die Wasserstraße kann jedenfalls nicht in die Verkehrsplanung einbezogen werden und taugt auch nicht zur Verteilung touristischer Ströme. „Anlegestellen sind nicht möglich – dafür ist die Wasserstraße zu eng“, sagt die Senatsbaudirektorin. Selbst die Sportbootschifffahrt sei auf dem Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal nicht möglich. Immerhin gibt hier Wasser zum Wohlfühlen. „Und der Nordhafen ist ein sehr naturnaher Freiraum."
Parkplätze nur unterirdisch
Offene Fragen gibt es also allen Planungen zum Trotz noch. Das ist bei Projekten, die eine so lang Realisierungsphase durchlaufen, nicht ungewöhnlich. Zeitläufte ändern sich und mit ihr gesellschaftliche Vorstellungen darüber, was schön und wünschenswert wäre. Stichwort Nachhaltigkeit und klimaneutrale Verkehre. „Wo können wir hier Fahrräder unterbringen?“, rätselt Lüscher noch.
Und ob die Straßenparkplätze entlang der Heidestraße einmal ausreichen? Eigentlich soll die Heidestraße ja zum „Boulevard“ werden. Doch hier ist lauter Automotorenlärm zu vernehmen, ein Boulevard auf dem es nur so dahinrauscht. In den Wohnquartieren selbst wird das andes sein. „Hier gibt es keine Parkplätze auf den Straßen, nur Tiefgaragen-Stellplätze.“
Was würde man wohl anders machen wollen, würden die Planung erst am Anfang stehen?
„Ich würde das Berliner Modell der kooperativen Baulandentwicklung auf das ganze Quartier anwenden und damit mehr geförderten Wohnraum schaffen“, sagt Lüscher tapfer – wohlwissend, welche zeitraubenden Kämpfe mit Investoren und Bezirksverwaltungen diesem Ziel vorangehen: „Und ich würde auch von Anfang an ein stringentes Mobilitätskonzept entwickeln sowie die Erdgeschosszonen mit öffentlichen Nutzungen belegen.
Und den Total-Tower würde ich höher bauen. Heute würde man ein Quartier mit einer größeren Dichte planen. Vielleicht überall noch ein Stockwerk höher bauen.“ Nach zehn Jahren werde sich jedenfalls zeigen, ob ein Quartier die Kraft hat zu leben. Über die Qualität der verwendeten Baustoffe zeigt sich die Senatsbaudirektorin ehrlich überrascht und sagt gegen den Wind, der ihr entgegenbläst: „Ich finde, es ist ein wirklich schönes Quartier.“