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Blick ins Agora Collective. Seit 2011 arbeiten hier Programmierer, Künstler und Kreative unter einem Dach.
© Jörg Carstensen/dpa

Projekträume anstelle von Arbeitsplätzen: Einzeln arbeiten, in der Community essen

Berlin ist die Hauptstadt des Coworkings.

Es ist kurz nach 19 Uhr. Denis Altschul gönnt sich ein Feierabendbier. Er hat es aus dem Gemeinschaftskühlschrank geholt. Das Glas, in das er das Geld schmeißt, funktioniert als „Vertrauenskasse“: Jeder zahlt das, was er herausnimmt, kontrolliert wird nicht. Gleich wird Altschul hinuntergehen, in den Garten des hauseigenen Cafés, in dem schon die meisten Kollegen sitzen. Kollegen, die streng genommen gar keine sind, weil sie nicht für die gleiche Firma arbeiten.

Denis Altschul arbeitet in keinem gewöhnlichen Büro, sondern im Agora Collective in der Mittelstraße in Berlin-Neukölln. In dem gelb-roten Backsteinhaus gibt es weder feste Arbeitszeiten noch einen Vorgesetzten, dafür sogenannte Coworking Spaces, in denen Freiberufler unterschiedlichster Branchen nebeneinandersitzen. Sie in einen Raum zu setzen, soll Platz für kreative Ideen schaffen, Zusammenarbeit möglich machen, auf die vorher niemand gekommen wäre.

Berlin zählt weltweit betrachtet zu den Städten mit den meisten solcher moderner Arbeitsgemeinschaften. Nach Erkenntnissen der „Global Coworking Survey“-Studie gibt es weltweit mehr als 7800 Coworking Spaces, in der deutschen Hauptstadt sind es über 100. Sie seien ein wesentlicher Bestandteil einer stetig wachsenden Start-up- Szene und wichtiger Standortfaktor – auch für Freiberufler, sagte ein Sprecher der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Forschung. „Insofern profitiert Berlin von einer wachsenden Zahl von Angeboten.“

Die Gründer sprechen nicht von Arbeitsplätzen, sondern Projekträumen

Das Agora hat es sogar in Berliner Reiseführer geschafft, auch Blogger aus anderen Ländern berichten darüber. Arbeitsforscher erwarten, dass diese Art von Arbeitsmodellen zunehmen wird. Im Agora sind fast alle Arbeitsplätze vermietet, die Gründer planen gerade einen weiteren Standort in der Hauptstadt.

Seit 2011 sitzt das Agora Collective in Berlin, alles begann auf einer Etage. Mittlerweile sind es fünf Stockwerke mit knarzenden Dielenböden, auf denen wild zusammengewürfelte Möbel stehen. Jede Etage hat eine andere Funktion: Im Erdgeschoss ist das Café, darüber ein Raum mit flexiblen Arbeitsplätzen, in der zweiten Etage darf in einem der Räume weder geredet noch telefoniert werden, in der vierten Etage hingegen können Gruppen zusammenarbeiten. Der große Raum unterm Dach bietet Platz für Ausstellungen oder Workshops.

Die Gründer Caique Tizzi und Pedro Jardim sprechen nicht von Büros oder Arbeitsplätzen, sondern von Projekträumen. Fast 70 Personen haben darin Platz gefunden. Für Altschul, der an seinem Feierabendbier nippt, ist das Haus nicht mehr nur der Ort, an dem er arbeitet. „Gerade für internationale Freiberufler ist die Community zu einer Art Ersatzfamilie geworden“, sagt der 28-jährige Brasilianer.

Kreative sollen Arbeiten ergänzen und gemeinsam neue Ideen entwickeln

Eine Familie, die sich hilft. Denn die Idee hinter dem Projekt, dass sich Kreative hier finden, ihre Arbeit sich ergänzt und gemeinsam neue Ideen entwickelt werden, klappt, sagt Altschul, der als Community Manager arbeitet: „Da hilft beispielsweise der Programmierer dem Künstler mit seiner Homepage.“ Im besten Fall profitiert auch das gesamte Kollektiv von der Zusammenarbeit. Denn ob Möbel oder das Mittagessen: Auch Selbstversorgung ist ein Ziel. Stadt- und Wirtschaftsgeograf Bastian Lange glaubt, dass die Nachfrage für solche Projekte bestehen bleibt: „Gerade junge, gut ausgebildete und ideengetriebene Menschen wollen abseits der Routine des gewohnten Arbeitsmarktes neue Arbeitsformen ausprobieren.“ Das zeige auch das Berliner Betahaus, ebenfalls gut ausgelastet.

Er ist sich sicher, dass es künftig noch mehr solcher Orte in Deutschland geben werde. „Vielleicht in abgewandelter Form, und spezialisiert in einem bestimmten Arbeitsfeld“, sagt Lange. Und er ist sich sicher, dass es gut wäre: „Was wollen wir mehr, als dass sich junge Leute konstruktiv den großen Fragen der Zukunft stellen? Etwas Besseres kann uns gar nicht passieren.“

dpa

Carolin Katschak

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