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Müllerstraße 48 in Wedding. Diesen Neubau will der Discounter Lidl in Berlin errichten.
© Lidl

Wohnungen bei Lidl: Discounter stocken auf

In Berlin könnten auf den Flächen von Super- und Baumärkten bis zu 30 000 Wohnungen entstehen.

Die Verwaltung von Wohnungsbeständen gehörte bisher nicht zum originären Geschäft von Lebensmitteldiscountern und Baumärkten. Das ändert sich jetzt. Nach Aldi und Rewe kündigte nun auch Lidl auf Anfrage des Tagesspiegels den Bau von kombinierten Wohn- und Geschäftshäusern in der Hauptstadt an. Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen findet: Lidl lohnt sich. Ja, derartige Projekte sollen sogar vorangetrieben werden, um dem Wohnungsmangel etwas entgegenzusetzen. Wird die Miete nun also künftig von der Kassiererin im Super- oder Möbelmarkt eingenommen und werden tropfende Wasserhähne in der Wohnung dann beim Filialleiter moniert?

Die Idee, Wohnen und Einkaufen zu vereinen ist nicht neu. Knapper Wohnraum und dicht besiedelte Innenstädte mit wenig freien Bauflächen zwingen Kommunen und Städte aber auch Retailer zum Umdenken: Wer mehr Verkaufsfläche anbieten will, kann seine meist einstöckige Verkaufskiste – Einzelhändler sprechen von „Flachmännern“ – eigentlich nur abreißen und hoffen, dass eine Erweiterung genehmigt wird. Soweit die Bebauungspläne das überhaupt zulassen. Da liegt es nahe, den Großstädten etwas entgegenzukommen und die Behörden bei den geplanten Neubauten durch die Implementierung von Wohn- oder Gewerberäumen und Kindergärten milde zu stimmen.

Der Immobilienboom setzt die Handelsketten selbst unter Druck: Wo mehr Menschen wohnen, müssen ergo auch mehr Menschen versorgt werden, einerseits. In Metropolen seien Planungen für rein eingeschossige Supermärkte plus Parkplätze aber andererseits wegen der hohen Grundstückpreise „wirtschaftlich nicht realisierbar“, erklärte Rewe. Der hochpreisigere Händler setzt aber eher auf zentrale „City“-Filialen in städtischen Wohnhäusern.

Mehr „Traffic“, mehr Laufkundschaft

„Wir sind bei insgesamt fünf Projekten in Mitte, Neukölln, Lichtenberg und Mahlsdorf bereits in sehr konkreten Gesprächen mit der Stadtplanung“, sagte auf Anfrage Jenny Stemmler, Bereichsleiterin Immobilien bei Lidl: „Eines davon ist die Müllerstraße 48 im Wedding. Dort planen wir den Abriss unserer Bestandsfiliale und den Neubau eines kombinierten Wohn- und Geschäftshauses mit Lidl im Erdgeschoss, einer hellen und freundlichen Tiefgarage mit Tageslichteinfall und mehreren Wohngeschossen, mit sechzig bis achtzig Wohnungen darüber, sowie Platz für Grünflächen auf dem Dach.“ Sie sollen Schadstoffe und Feinstaub aus der Luft filtern. Die Objekte werden zudem mit einer Photovoltaik-Anlage und Schnellladestationen für Elektrofahrzeuge ausgestattet. Der Discounter geht bundesweit insgesamt von mehr als 2000 Wohneinheiten aus.

Auch Rewe beabsichtigt über zwei neuen Märkten in Berlin Wohnungen zu errichten. Konkurrent Aldi plant derzeit ebenfalls Wohnungen über einem Supermarkt in Berlin und anderen Städten.

Das Konzept, Einzelhandel, Wohnung und Büro auf engstem Raum zu vereinen, erhält so weiteren Schwung. Es hat aus Sicht der Discounter vor allem den Charme, dass ein Teil der Kunden nur einen Schritt weit vom Supermarkteingang entfernt wohnt: Mehr „Traffic“, mehr Laufkundschaft, sind garantiert.

In Frankfurt-Niederrad hat Lidl ein erstes Projekt aufgesetzt: Parkplätze werden unter der Filiale angelegt, eine Rolltreppe führt zu den Verkaufsflächen. Die erste „Metropolfiliale“ sei eine Blaupause, „wie wir uns Einzelhandel in dicht besiedelten innerstädtischen Gebieten vorstellen“, sagte Alexander Thurn, Geschäftsleiter Immobilien bei Lidl Deutschland, zum Spatenstich Anfang April.

Neue Art der Nachverdichtung

Eingeschossige Flachbauten mit üppigen Parkplätzen für den Großeinkauf am Wochenende – dieses Bild in deutschen Städten dürfte seltener werden. Die üppigen Discounterflächen sind dem Berliner Senat wegen der Wohnungsnot ein Dorn im Auge. Grit Schade, Leiterin der Wohnungsbauleitstelle in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen in Berlin, hat einen speziellen Supermarkt im Auge: „Der Lidl Supermarkt Heinrich-Heine-Straße in Mitte ist ein exemplarisches Beispiel“, sagte Schade auf einer Veranstaltung der Rechtsanwaltskanzlei GSK Stockmann: „Das geht so gar nicht.“ Lidl plane dort nun „eine fünf- bis sechsgeschossige Bebauung“, sagte Schade am Mittwoch in Berlin.

Gab es bisher schon angemietete Geschäfte im Erdgeschoss von Wohnungen und auch einzelne gemischte Projekte, gewinnt diese Art der „Nachverdichtung“ nun an Fahrt. „Der Trend zum Neubau gemischter Handelsimmobilien ist noch jung“, sagt Marco Atzberger, Mitglied der Geschäftsleitung beim Handelsinstitut EHI.

Nachverdichtung auf diese Art und Weise ist „grundsätzlich gut“, findet auch Stadtplaner Dogan G. Yurdakul (GfP Gesellschaft für Planung, Berlin). Missstände im Städtebau könnten so „geheilt“ werden. Man solle aber nicht davon ausgehen, dass so große Wohnungsstückzahlen generiert werden könnten.

„Wir denken aus Kundensicht“

„Jede Wohnung zählt“, findet Schade und möchte „gerne alle Projekte begleiten“. In der Regel lägen die Supermärkte in sehr guten Lagen, seien eingebettet in eine soziale Infrastruktur und angebunden an den öffentlichen Personennahverkehr. „Wir haben in Berlin 330 Flachmänner und ein Potential von 20000 bis 30000 Wohneinheiten“, schätzt die Wohnungsbauleitstellen-Leiterin.

Lidls Immobilien-Entwicklerin Stemmler unterzieht die 140 Filialen der Kette in Berlin derzeit Einzelfallprüfungen: „Wir tasten uns da langsam ran und werden nicht dreißig Standorte auf einmal entwickeln“, sagt sie. Allerdings: „Wir denken aus Kundensicht, nicht aus städtebaulicher Sicht.“ Den Markt wirtschaftlich zu betreiben, könne auch eine Motivation für die Aufstockung sein.

Mehrgeschossige Handelsimmobilien sind betriebswirtschaftlich effizienter und nebenbei näher am Kunden. „Wer über einem Lebensmittelmarkt wohnt, kauft dort wahrscheinlich auch ein“, sagt Artzberger. Vermietung sei aber keine Kernkompetenz von Händlern. Verwalteten sie Wohnungen in eigener Hand, seien sie Ansprechpartner für Reparaturen und Mieterbeschwerden. Eine Auslagerung an Dienstleister lohne hingegen erst bei vielen Objekten. „Die neuen Filialkonzepte müssen sich insofern noch bewähren.“

Lidl möchte die neuen Objekte, die auf dem Grund der Bestandsimmobilien entstehen sollen, im Eigentum halten: Weil der Boden kostbar und verfügbare Innenstadtflächen rar sind. Stemmler möchte mit professionellen Verwaltern zusammenarbeiten, damit die Kassiererinnen nicht von Mietern behelligt werden. „Wir werden mit der zunehmenden Menge an Wohnungen auch interne Lösungen finden, um das Thema in der Unternehmensgruppe abzubilden“, sagt sie.

Aldi Süd hat ähnliche Pläne

Die neuen Filialtypen finden auch bei anderen Händlern Gefallen: So strebt der Möbelriese Ikea zunehmend in die Innenstädte und kann sich nun Büros und Wohnungen auf dem Dach von Geschäften vorstellen. „Wir trauen uns zu, solche Modelle zu entwickeln. Umgesetzt werden sollten sie dann mit lokalen Partnern“, hatte Ikea Anfang April angekündigt.

Norma hat im Obergeschoss einer Filiale in Nürnberg eine Kindertagesstätte errichtet, Wasserspielplatz auf dem Flachdach inklusive. Ferner hat die Handelskette auf dem Grundstück auch den Neubau von Reihenhäusern und Geschosswohnungen geplant. Das Projekt sei Vorbild für weitere Filialen gerade in Bayern, heißt es.

Aldi Süd hat ähnliche Pläne: In Ballungsräumen wie Köln oder München würden Filialen in Kombination mit Wohnungen realisiert, teilte das Unternehmen mit. Man stehe neuen Konzepten „offen gegenüber“.

Teils agieren Handelsketten aber auch unter politischem Druck. Aldi Nord etwa will in Berlin 2000 Wohnungen errichten. Die ersten in Neukölln und Lichtenberg würden in Kürze gebaut, weitere 15 Standorte in der Hauptstadt habe man im Blick. Mit dem Projekt geht Aldi auch auf Berlins Senat zu. „Handelsketten dürften mit gemischt genutzten Immobilien leichter Baugenehmigungen in Städten erhalten“, sagt Atzberger. „Allzu häufig macht aber das Planungsrecht der Bauleitplanung einen Strich durch die Rechnung“, sagt Jan Hennig, Fachanwalt für Verwaltungsrecht bei GSK Stockmann.

Die Vorzeigefilialen haben auch Nachteile

Architekten wie Henner Rolvien (Axthelm Rolvien Architekten, Berlin) haben Zweifel, ob der Wohnungsbau über bzw. mit dem Discounter in Berlin zügig Fahrt aufnehmen wird, zumal Grit Schade von der Wohnungsbauleitstelle nun auch die Baumarktflächen ins Visier genommen hat. „Wir haben in unserem Büro derzeit 100 000 Quadratmeter Flächen in Berlin in Planung“, klagt Rolvien, „die Genehmigungszeiträume liegen inzwischen bei drei bis fünf Jahren. Es wird in den Bezirken bis zur Arbeitsebene, zum entsprechenden Sachbearbeiter, telefonisch schon gar nicht mehr durchgestellt.“

Die neuen Vorzeigefilialen haben jedoch auch Nachteile, etwa eine aufwendigere Statik. Aus Anwohnersicht ist ebenfalls nicht alles rosig: Supermärkte liegen oft an Verkehrsachsen und sind so Lärm beim Kommen und Gehen der Kunden ausgesetzt. Zumal manche Geschäfte bis in den späten Abend hinein geöffnet haben.

„Es stimmt: Nicht jede Einzelhandelsadresse ist auch eine gute Wohnadresse“, sagt Christian Spath, der vor zwei Jahren eine Studie über Einzelhandelsimmobilien als urbane Entwicklungsreserve für Berlin vorgelegt hat. Prinzipiell seien die neuen Wohnstandorte, kombiniert mit einem Super- oder Fachmarkt, aber eine gute Idee. „Sie bieten Chancen für den Einzelhandel, weil mehr Kunden im Nahbereich wohnen und es werden Flächenreserven aktiviert. Zudem sind derartige Projektentwicklungen gut für die Nahversorgung und gut für die Versorgung der Städte mit Wohnraum.“ Bei der Planung sollten die Standorte aber gleich so konzipiert werden, dass sie mehrgeschossig sind und die Parkplätze unter der Erde liegen, rät Spath.  (mit dpa)

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