Homeoffice ja, aber nicht in der Großstadt: Immer mehr Menschen fliehen vor Corona auf die Kanaren
Inseln der Unbeschwertheit – auf den Kanaren geht das Leben relativ normal weiter. Im Homeoffice am Strand zu arbeiten, reizt Bürger aus ganz Europa.
Der Laptop ist aufgeklappt, die Sonne lacht. Nach dem Aufstehen war Irina Puzakova am Strand spazieren. Jetzt sitzt sie in ihrem T-Shirt an einem Tisch auf der Terrasse. Im Halbschatten. Bei um die 20 Grad lässt es sich dort gut aushalten. Die 35-Jährige arbeitet für eine Werbeagentur in London. Als die Corona-Pandemie ausbrach, war für sie schnell klar: Homeoffice ja, aber nicht in der Großstadt. Am Ende flog sie auf die kanarischen Inseln und arbeitet seither von dort.
Irina Puzakova ist kein Einzelfall. Auch Ferdinand Hoske aus Berlin hat sich zu diesem Schritt entschieden. Eigentlich hat der 29-Jährige für jedes Wetter die passende Jacke. „Das ist ein kleiner Fetisch von mir“, sagt er. Doch als es Anfang Oktober in Berlin nachts plötzlich nur noch um die fünf Grad waren, wurde es ihm zu ungemütlich. Winter gefällt ihm allgemein nicht. Er friert zwar selten, aber er mag keine Heizungsluft und ist gerne barfuß.
Normalerweise hätte Hoske einfach Pech gehabt. Er arbeitet in einem Start-up, das Telefonlösungen für Gesundheitseinrichtungen anbietet – in Teilzeit. Parallel studiert er Datenwissenschaften im Master. Für den Job muss er im Büro sein, für das Studium in der Uni. Eigentlich. Das änderte sich im März mit Beginn der Corona-Pandemie. Wie so viele wechselte er ins Homeoffice. Die Vorlesungen verfolgt er als Videoaufnahmen.
„Am Anfang war das nicht so toll. Ich war neu in der Firma und hatte noch nicht einmal alle Kollegen kennengelernt und auf einmal alle nur noch in Videokonferenzen gesehen“, erzählt Hoske. Doch er strukturierte seinen Tag um und schätzte sehr schnell die neuen Freiheiten, etwa sich mittags zu Hause etwas kochen zu können. Die Idee, länger vom Ausland aus zu arbeiten, kam, als klar wurde, dass die Pandemie nicht so schnell vorbei sein würde.
Als sich im Oktober die Kälte über Berlin legt, erinnert sich Hoske, dass es auf den Kanaren das ganze Jahr über warm ist. Die spanischen Inseln liegen vor der Atlantikküste Marokkos, gehören klimatisch also zu Nordwest-Afrika. Selbst im Winter ist es oft noch wärmer als 20 Grad und dazu sonnig. Und sie gelten als Surfer-Paradies. Hoske hat schon mal im Urlaub Wellen geritten und möchte daran anschließen. Er vermietet sein WG-Zimmer in Berlin unter und nimmt den nächsten Flug nach Fuerteventura. Am 20. Oktober landet er mittags in Puerto del Rosario, dem Hauptort der Insel. Bei strahlendem Sonnenschein und 26 Grad.
[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Unterdessen steigen in Deutschland und fast ganz Europa die Infektionszahlen der Corona-Pandemie. Viele Regionen und Länder begeben sich in einen erneuten Shutdown, teils mit Ausgangssperren. Auf den Kanaren fallen die Zahlen währenddessen. Das Robert-Koch-Institut hebt die Warnung für die Region als Risikogebiet auf. Seit Mitte Dezember gelten die Kanaren zwar wieder als Risikogebiet, dennoch sei „hier alles noch tiefenentspannt“, sagt Hoske.
Natürlich gibt es auch dort Auflagen. Auf der Straße gilt Maskenpflicht, im Restaurant dürfen nur sechs Gäste an einem Tisch sitzen. Tanzen sei tabu, erzählt der Berliner. Doch verglichen mit dem europäischen Festland erscheinen die Kanaren fast wie eine surreal unbekümmerte Welt. Das lockt viele Tele-Arbeiter an. Sei es in Hostels, Airbnb-Unterkünften, Cafés oder Strandbars: Überall sitzen Menschen mit Laptops. Die Regierung fördert das offiziell.
Yaiza Castilla Herrera, Ministerin für Tourismus, Industrie und Handel der Regierung der Kanarischen Inseln hat eine halbe Million Euro in eine Kampagne investiert, um 30.000 Tele-Arbeiter auf die Kanaren zu locken. Es ist ein Versuch, das fehlende Geld der ausbleibenden Touristen zu kompensieren. Die Kanaren leben normalerweise stark von den Urlaubern. Für 2020 rechnete die Regierung mit einem Einbruch des Bruttoinlandproduktes um 21,6 Prozent und rund 50.000 wegfallenden Arbeitsstellen (–5,5 Prozent). Menschen wie Puzakova, Hoske und Sivan Dan sollen es nun richten.
„Hier spürt man Covid weniger und die Atmosphäre ist gut“
Der 40-jährige Dan aus Tel Aviv ist seit eineinhalb Jahren bei einer Firma in Madrid angestellt, die eine Software für Personalmanagement und -gewinnung vertreibt. Er kümmert sich darum, dass die Software stabil läuft. Vor der Pandemie arbeitete er in einem Büro mit mehreren Hundert Menschen. Zwei Tage die Woche war Homeoffice möglich. Nun ist er seit September auf Fuerteventura – mit Aufenthalten auf Gran Canaria und Teneriffa. „Hier spürt man Covid weniger und die Atmosphäre ist gut“, sagt Dan. Er vermisst den persönlichen Austausch mit Kollegen, schätzt aber, dass er seine Arbeit flexibler gestalten kann und nicht mehr an einen Ort gebunden ist. „Dieses Leben kann süchtig machen“, sagt er.
Auch Tillmann Horn, 30, gebürtig aus Bayreuth, kam Ende November auf Fuerteventura an und hatte in der Stadt Corralejo mit zwei Freunden ein Haus gemietet, um in Ruhe arbeiten zu können. Horn betreut bei einer Firma für Werbetechnologie in Amsterdam den Vertrieb für den deutschsprachigen Markt.
[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden.]
Er freut sich, dass er momentan durch die Homeoffice-Regelung bei seinem Arbeitgeber keinen festen Arbeitsplatz mehr benötigt. „Ich bin schon viele Jahre als digitaler Nomade um die Welt gereist“, sagt er. Das sei sein Ding. Weihnachten reiste er trotzdem zurück nach Deutschland und brach dafür die Zelte in Spanien vorerst ab. Wo es als nächstes hingeht, ist noch offen. Vielleicht auf den afrikanischen Kontinent, vielleicht wieder auf die Kanaren – Hauptsache die Bedingungen für das Kitesurfen sind gut. In Zukunft möchte er wieder mehr reisen, „nicht bloß einen Monat im Jahr“. Er ist sich sicher, dass sich die „ganze Arbeitswelt dahin bewegen“ wird.
Auf Lanzarote produktiver als im Büro
Die Russin Irina Puzakova hat es nicht nach Fuerteventura verschlagen. Ihre Strandaufenthalte vor der Arbeit finden auf der Nachbarinsel Lanzarote statt. „Ich versuche, viel abends zu arbeiten und den Tag draußen zu genießen“, sagt sie. In ihrem Londoner Büro war sie seit Ausbruch der Pandemie nicht mehr. Die erste Zeit verbrachte sie in einem Dorf auf dem englischen Land. Im Sommer besuchte sie ihre Familie in Russland. Seit November ist sie auf der Insel.
[Deutschland hat keinen Bock mehr: Lesen Sie hier, wie man dem Corona-Frust entkommt. (T+)]
Auf Lanzarote sei sie produktiver als im Büro, sagt Puzakova. „Das Pendeln fällt weg, ich habe mehr Zeit am Tag.“ Doch es gibt auch Nachteile: keine Gehaltserhöhungen, keine Beförderungen und viele spannende Seiten ihres Jobs seien weggefallen. Vor Corona war sie ständig auf Konferenzen, bei Events oder Geschäftsessen mit Kunden. „Nun gibt es nur noch Arbeit, aber keinen Spaß mehr.“ Anderseits kann sie jetzt auf einer Ferieninsel arbeiten. Puzakova denkt, dass sich durch die Pandemie die Art zu arbeiten dauerhaft ändern wird. „Die Menschen haben gesehen, was möglich ist und haben nun eine andere Sicht auf das Leben und das Arbeiten. Sie werden in Zukunft mehr Optionen haben, manche vielleicht komplett aus der Ferne arbeiten.“
Auch Ferdinand Hoske aus Berlin denkt, dass es nach der Krise eine deutlich stärkere Toleranz für Homeoffice und flexible Arbeitszeiten geben wird. „Es hat sich gezeigt, dass es sehr gut klappt, von einem Ort wie den Kanaren aus zu arbeiten.“ Er habe sogar bemerkt, dass manche Kollegen in Deutschland ein bisschen neidisch seien. Er macht nun keine Videokonferenzen mehr vom Balkon mit Meerblick.
Jan Söfjer