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Das Gesicht der deutschen Gewerkschaften ist Reiner Hoffmann seit Mai 2014. Der 65-jährige gebürtige Wuppertaler, Großhandelskaufmann und Diplom Ökonom, amtiert noch bis Mai 2022 als DGB-Vorsitzender.
© Doris Spiekermann-Klaas

DGB-Chef Hoffmann im Interview: „Homeoffice muss gelernt werden“

Der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann über Spielregeln in der neuen Arbeitswelt sowie die Notwendigkeit höherer Schulden und Investitionen.

Herr Hoffmann, nach der Finanzkrise 2008/09 gewannen die Gewerkschaften einen höheren Stellenwert in der Gesellschaft wegen ihres Beitrags zur Krisenbewältigung. Wiederholt sich das jetzt?

Die Zustimmung zu Gewerkschaften wächst deutlich, das haben wir insbesondere zu Beginn der Krise gespürt. Wir haben zwar coronabedingt weniger Kontakte zu den Beschäftigten und deshalb auch weniger Mitglieder…

…der Schwund beschleunigt sich?
Nein. Jeden Tag bekommen die acht im DGB zusammengeschlossenen Gewerkschaften 900 neue Mitglieder. Gleichzeitig verlieren wir aber Mitglieder vor allem aufgrund der Demografie. Im politischen oder auch im öffentlichen Raum stelle ich aber fest, dass die Zustimmung zu unseren Themen und unserem Handeln deutlich steigt.

Merken Sie das auch persönlich?
Nach sechs Jahren als DGB-Vorsitzender kennen mich viele Leute und sprechen mich an. Es gibt Zuspruch, doch immer auch noch die Stellvertretermentalität nach dem Motto: „Ihr müsst das mal machen.“ Dann antworte ich immer freundlich und sage, dass Gewerkschaften Mitgliederorganisationen sind und engagierte Menschen brauchen, um handlungsmächtig zu sein.

Wie erfolgreich waren die Gewerkschaften, als es um Corona-Maßnahmen ging?
Bei der Erhöhung des Kurzarbeitergeldes konnten wir uns zwar nicht komplett durchsetzen, haben aber immerhin Aufstockungen nach vier und sieben Monaten erreicht. Ohne uns wäre das so nicht gekommen. Der Arbeitsmarkt wurde vor dem Absturz bewahrt, und die Hilfen insgesamt haben stabilisierend gewirkt. Nun müssen wir massiv in die Modernisierung der Wirtschaft investieren.

Es gibt einen riesigen Schuldenberg. Damit sind Verteilungskonflikte so sicher wie der nächste Aufschwung.
Wir hatten vor der Pandemie eine Schuldenquote gemessen an der Wirtschaftsleistung von unter 60 Prozent. Das geht jetzt hoch auf bis zu 75 Prozent. Na und? Amerikaner und Japaner, um nur zwei Beispiele zu nennen, liegen deutlich darüber. Es wäre fatal, jetzt mit einer Sparpolitik den Haushalt wieder ausgleichen zu wollen. Wir haben ein niedriges Zinsniveau und eine niedrige Inflation. Wenn das Zinsniveau unterhalb des Potenzialwachstums bleibt, können wir ohne Probleme aus den Schulden herauswachsen.

Unsere Landsleute mögen jedoch die sparsame Hausfrau, die nicht über ihre Verhältnisse lebt.
Es wird viel Unfug verbreitet, auch von Sachverständigen. Das Beharren auf dem 60-Prozent-Ziel ist ökonomisch nicht plausibel. Wir haben einen Investitionsbedarf von zusätzlichen 450 Milliarden Euro in den kommenden zehn Jahren, da sind wir uns mit dem BDI einig. Und zwar unabhängig von Corona. Dazu kommen die Reparaturaufgaben nach Corona, wofür es das große Wiederaufbauprogramm der EU gibt.

Sie sind zufrieden mit dem Ergebnis der deutschen EU-Ratspräsidentschaft?
Zum ersten Mal wird – nach langen ideologischen Auseinandersetzungen – das Instrument der Gemeinschaftsanleihen eingesetzt. Und eben nicht nur, um die Coronafolgen zu bewältigen, sondern vor allem, um die Klimaschutzziele zu erreichen. Das betrifft Verkehr, Wasserstoff und die energetische Gebäudesanierung, bei denen die Kommunen eine herausragende Rolle spielen. Wenn es gelingt, dass die Schulen vernünftig ausgestattet werden und die Kommunen auch in bezahlbaren Wohnraum investieren, wird sich die Lebenssituation der Menschen nachhaltig verbessern.

Das rechtfertigt höhere Schulden zulasten der nächsten Generation?
Umgekehrt ist es richtig. Was jetzt an Zukunftsinvestitionen unterbleibt, mindert die Chancen der nächsten Generation. Gerade die Defizite und Ungerechtigkeiten im Bildungssystem werden durch Corona deutlich. Was wir brauchen, ist eine Innovationsstrategie, mit der wir in den kommenden zehn Jahren aus den Schulden herauswachsen und bei der die Menschen merken, was mit dem Geld gemacht wird. Das schließt Änderungen im Steuersystem nicht aus.

Seinen Parteifreund Olaf Scholz sehe der DGB-Chef am liebsten im Kanzleramt.
Seinen Parteifreund Olaf Scholz sehe der DGB-Chef am liebsten im Kanzleramt.
© dpa

Sie wollen mit höheren Spitzensteuersätzen den Mittelstand quälen.
Ein anderer Progressionsverlauf bei der Einkommensteuer ist wichtig, um kleinere und mittlere Einkommen zu entlasten und höhere Einkommen etwas stärker zu belasten. Selbst die OECD kritisiert, dass Kapitaleinkünfte mit 25 Prozent besteuert werden, Einkommen aus Arbeit aber mit 30 Prozent und mehr. Ein gut verdienender Facharbeiter zahlt 39 Prozent Steuern, und die Kapitalisten machen sich mit 25 Prozent einen schlanken Fuß. Da muss die nächste Regierung ran.

Mit dem früheren Blackrock-Mitarbeiter Friedrich Merz wird das schwierig.
Eine Innovationspolitik, die auf einer vernünftigen Fiskalpolitik und einem gerechten Steuersystem basiert, ist mit den früheren ideologischen Positionen von Friedrich Merz schwer vereinbar.

Ihr Parteifreund, der Finanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz, tritt bislang auch nicht gerade auf als Kämpfer für ein gerechteres Steuersystem.
Er befürwortet die Abschaffung der Abgeltungssteuer und die Einführung einer Transaktionssteuer ebenso wie eine Digitalsteuer. Dazu müssen aber zumindest acht andere EU-Staaten mitmachen. Ohne Scholz und seinen französischen Kollegen wäre im Übrigen das Wiederaufbauprogramm in Brüssel nicht so auf die Schiene gesetzt worden. Auch die Kanzlerin musste überzeugt werden, dass zur Finanzierung europäischer Investitionsprogramme europäische Anleihen kein Tabu sein dürfen.

Die Pandemie verändert die Arbeit und damit auch die Arbeit der Gewerkschaften. Was kommt auf die Sozialpartner zu?
Die Digitalisierung der Arbeitswelt ist nicht neu, aber sie beschleunigt sich. Bemerkenswert ist der Sinneswandel bei den Arbeitgebern, die ja lange Angst vor Kontrollverlust hatten: „Wer im Homeoffice sitzt, der macht sich einen Lenz.“ Sie haben in den vergangenen Monaten erkannt, dass das nicht der Fall ist. Aber es gibt das Risiko einer enormen Arbeitsverdichtung und Entgrenzung von Arbeit. Homeoffice muss gelernt werden.

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Aber wie?
Wir brauchen Spielregeln. Arbeitszeiten und Arbeitsschutz müssen eingehalten werden, der Arbeitgeber hat die Arbeitsmittel zu stellen und der Versicherungsschutz sollte gewährleistet sein. Alles in allem geht es um Gestaltung – auch über mehr Mitbestimmung –, wie wir das in großen Unternehmen mit Betriebsräten bereits haben: Die Arbeitszeiterfassung ist da geregelt, die Bezahlung von Überstunden sowie die Erreichbarkeit und Nicht-Erreichbarkeit. Wo wir stabile Sozialpartnerschaft haben, funktioniert das deutlich besser.

Und wenn nicht?
Dann setzt der Gesetzgeber den Rahmen durch eine Ergänzung im Betriebsverfassungsgesetz. In der Folge ist der Arbeitgeber verpflichtet, sich mit dem Betriebsrat über die Modalitäten des mobilen Arbeitens zu verständigen.

Kriegt das Arbeitsminister Heil durch?
Die Union kann sich dem nicht verweigern, weil mehr Mitbestimmung für digitale Arbeit im Koalitionsvertrag steht.

Was haben Sie noch für Erwartungen an die letzten Monate der großen Koalition?
Ein modernisiertes Betriebsverfassungsgesetz inklusive vereinfachter Verfahren für Betriebsratswahlen; auch ein besserer Schutz von Betriebsräten. Insbesondere in der Ökobranche, die sich gerne ein grünes Label gibt, aber von Betriebsräten und besseren Arbeitsbedingungen nichts wissen will, wäre das hilfreich. Bei Alnatura zum Beispiel oder in der Windenergie. In vielen Branchen gibt es miese Arbeitgeber, die der Sozialpartnerschaft den Kampf ansagen. Da muss man ran – wie das ja auch in der Fleischindustrie gelungen ist. Wir erwarten ferner eine gesetzliche Einschränkung der sachgrundlosen Befristung und eine Stärkung der Tarifbindung, beispielsweise durch eine Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeit, also der Gültigkeit eines Tarifvertrags für die gesamte Branche.

Wie soll das funktionieren?
Wenn sich Gewerkschaft und Arbeitgeberverband auf einen Tarifvertrag einigen und für den die Allgemeinverbindlichkeit beantragen, dann sollte das nicht länger von der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände blockiert werden können. Die Bedeutung der Tarifbindung hat auch die EU-Kommission erkannt und entsprechende Vorschläge gemacht.

Zum Beispiel?
Die Kommission plädiert für einen armutsfesten gesetzlichen Mindestlohn – in Deutschland wären das etwa zwölf Euro –, wenn die Tarifbindung unter 70 Prozent gefallen ist. Darunter liegen wir schon lange. Prioritär sind für die EU aber Tariftreueklauseln bei der öffentlichen Auftragsvergabe: Unternehmen, die mit Steuergeldern Aufträge bekommen, dürfen kein Sozialdumping mehr betreiben, sondern müssen Tariflöhne zahlen. Dann benötigen die Arbeitnehmer auch keine Aufstockung mehr, die wiederum mit Steuergeldern finanziert wird.

Dumm nur, dass Tarifverträge aus der Mode gekommen sind – bei Arbeitnehmern wie Arbeitgebern.
Dabei wirken Tarife wie ein öffentliches Gut, von dem alle etwas haben. Die Einkommen der Beschäftigten mit Tarif liegen rund ein Fünftel über denen der Beschäftigten ohne Tarif. Auch die Arbeitgeber haben Vorteile, denn sie bekommen faire Wettbewerbsbedingungen und sozialen Frieden. Mit Tarifverträgen können passgenauere Lösungen gefunden werden als mit Gesetzen. Und der Staat wird von Verteilungskonflikten verschont. Auch deshalb gibt es in den Bundesländern mit Ausnahme Bayerns TariftreuVersion:0.9 StartHTML:00000147 EndHTML:00000868 StartFragment:00000181 EndFragment:00000832 SourceURL:chrome://browser/content/browser.xhtml eklauseln. Der Bund sollte als Auftraggeber mitmachen, ich erwarte entsprechende Vorschläge im Januar.

2021 ist Wahljahr. Nach welchen Kriterien werden die Arbeitnehmer wohl votieren?
Die Menschen wollen Sicherheit und Mitsprache bei der Gestaltung des digitalen Wandels. Der Wandel muss in sozialverträglichen Bahnen stattfinden. Auch wir Gewerkschaften wollen den Wandel zu einer klimaneutralen Wirtschaft mit guter Arbeit, von der die Beschäftigten gut leben können. Wir sind weder Betonköpfe noch Besitzstandswahrer, sondern Gestalter von Veränderungen, die den Menschen Sicherheit garantieren.

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