Bildung in Berlin: Immer mehr Schulabgänger finden keinen Ausbildungsplatz
Und das, obwohl Azubis gesucht werden. Ein Problem: mangelnde Qualifikation. FDP sieht "deutliches Alarmsignal".
Samer ist 18 Jahre alt und geflüchtet. Er hat keine Berufsbildungsreife und Mühe mit dem Schreiben, aber er ist arbeitswillig und kommunikativ. Er sagt, dass er seit seinem Schulabgang vor einem Jahr 100 Bewerbungen für einen Ausbildungsplatz geschrieben hat. Vergeblich. Er sagt: Fast alle Türen sind zu.
Samer passt ins Bild: Fast 2350 Lehrstellenbewerber wurden 2017 von der Arbeitsagentur als „unversorgt“ geführt – obwohl tausende Lehrstellen frei waren. Die Zahl ist aktuell im Vergleich zum Vorjahr sogar noch gestiegen, wie die Arbeitsagentur auf Anfrage mitteilte.
Wie ungünstig sich die Dinge – zumindest statistisch – entwickeln, hat gerade eine Anfrage der FDP-Abgeordneten Maren Jasper-Winter gezeigt. Aus der Antwort von Bildungs-Staatssekretär Mark Rackles (SPD) geht hervor, dass die Zahl der Unversorgten in den letzten vier Jahren sogar um 55 Prozent gestiegen ist: von 1500 auf die genannten 2350. Die Sprecherin für berufliche Bildung der FDP-Fraktion sieht hier „ein deutliches Alarmsignal“, denn sie geht davon aus, dass in der mangelnden Ausbildungsreife der Grund für die fehlende Vermittelbarkeit liege. Jasper-Winters Vermutung lautet, „dass die Schulen nicht ausreichend auf das Arbeitsleben vorbereiten“.
Daher appelliert die Liberale an Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD), sich mehr um die „Defizite“ zu kümmern, „die zur erfolglosen Bewerbung führen“. Wenn Scheeres diese „Fehlentwicklung“ stoppen wolle, müsse sie sich „ernsthaft mit den Ursachen befassen und ein Monitoring einführen“.
Nicht jede "Maßnahme" hilft weiter
Die „Ursachen“ allerdings sind vielfältig – und haben auch mit den Tücken der Statistik zu tun, wie eine Anfrage bei der Arbeitsagentur Berlin-Brandenburg ergab. So hängt der zwischen 2016 und 2017 besonders rasante Anstieg um 550 unversorgte Bewerber damit zusammen, dass 2017 die statistische Auswertung verändert wurde: Neuerdings werden auch solche Jugendlichen als „unversorgt“ bezeichnet, die in eine „Maßnahme ohne Bildungscharakter“ vermittelt wurden. 2016 war das noch anders. Daher könnten die Zahlen nur bedingt verglichen werden, betont Johannes Wolf, Sprecher der Regionaldirektion Berlin-Brandenburg bei der Bundesagentur für Arbeit. Ein weiterer Grund für den Anstieg liegt in der Flüchtlingszuwanderung: Zum vergangenen September kamen über 1100 Bewerber aus einem der „zugangsstärksten Herkunftsländer von Asylsuchenden“. Ein Jahr zuvor waren es nur halb so viele gewesen.
Bewerber und Betriebe passen nicht zusammen
Und schließlich ist die Zahl der Unversorgten noch im September so hoch, weil die Arbeitsagentur sie nicht vorzeitig in „Maßnahmen“ wie Überbrückungsangebote oder Berufsvorbereitungen vermitteln will, wo sie zwar pro forma versorgt sind, aber keine Ausbildung bekommen, wie Wolf erläutert.
Abgesehen davon legt die Arbeitsagentur aber auch dar, dass es „zunehmende und vielfältige Passungsprobleme“ auf dem Ausbildungsmarkt gibt – das sogenanntes „Mismatch“. Mit anderen Worten: Bewerber und Betriebe passen nicht zusammen. Damit ist zum einen gemeint, dass die Jugendlichen andere Berufs wünschen als ihnen angeboten werden. Zum anderen meint „Mismatch“, dass Arbeitgeber mit den Qualifikationen der Bewerber unzufrieden sind: „Hier wären zum einen die Ausbildungsbetriebe gefragt, ihre Erwartungen zu überdenken und die Anforderungen gegebenenfalls anzupassen“, mahnt Johannes Wolf von der Regionaldirektion. Allerdings schickt er, mit Verweis auf Berlins schlechtes Abschneiden bei den überregionalen Schulvergleichstests, hinterher, dass die Schulen „dafür verantwortlich sind, die jungen Menschen bestmöglich auf die Berufsausbildung vorzubereiten“ – womit man wieder bei Jasper-Winter und ihrer Mahnung in Sachen „fehlende Ausbildungsreife“ wäre.
Um zumindest zu erreichen, dass Betriebe und Jugendliche überhaupt erst mal zueinander finden, setzt die Arbeitsagentur auf eine stärkere Verbindung der Berufsorientierung in der Schule mit Praxiserfahrung in Unternehmen und einem „frühzeitigeren Beginn des Matchingprozesses“. In diesem Zusammenhang will sie auch erreichen, dass die Zusammenarbeit aller Partner unter dem Dach der Jugendberufsagentur besser wird, um Jugendliche „mit unterschiedlichen Problemlagen“ besser zu betreuen. Zudem wird die „Einstiegsqualifizierung“ (EQ), eine Art betriebliches Langzeitpraktikum, immer wichtiger: Sie soll Jugendlichen, die – wie Samer – ihre Schulpflicht erfüllt, aber keine Ausbildungsstelle gefunden haben, den bruchlosen Übergang in eine Ausbildung ermöglichen, wobei das Praktikum sechs bis maximal zwölf Monate dauert.
Geflüchtete haben es besonders schwer
Der Vorteil: „Potenzielle Ausbildungsbetriebe lernen potenzielle Auszubildende und deren Leistungsfähigkeit in der betrieblichen Praxis kennen“, erläutert Wolf: Wenn ein Betrieb bisher nicht oder nicht mehr ausgebildet habe, könne er mit der Einstiegsqualifizierung aus Sicht des Betriebs den (Wieder-)Einstieg in die Ausbildung erproben. Mit einer Übergangsquote in betriebliche Berufsausbildung von bundesweit über 60 Prozent habe sich die EQ in den vergangenen Jahren als erfolgreiches Instrument zur beruflichen Integration junger Menschen und zur Stabilisierung und Ausweitung betrieblicher Berufsausbildung erwiesen, ist die Arbeitsagentur überzeugt. Laut Wolf befinden sich aktuell in Berlin ca. 350 und damit gut acht Prozent mehr Jugendliche als im Vorjahr in der sogenannten Einstiegsqualifizierung.
Nur – auch einen Platz in einer Einstiegsqualifizierung muss man erst mal finden. Für Flüchtlinge ist das besonders schwer und erst recht für Menschen wie den 18-jährigen Samer, denn die meisten anderen Bewerber haben – anders als er – einen Schulabschluss.