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Nationale Grenze. Gegen die EU-Beschlüsse könnte es Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht geben.
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Verträge im Konflikt: EU-Gipfelbeschlüsse werfen rechtliche Fragen auf

Die EU–Gipfelbeschlüsse könnten in einzelnen Mitgliedsstaaten mit dem Verfassungsrecht kollidieren. Dass irgendwer gegen das fertige Vertragswerk gen Karlsruhe ziehen wird, davon ist freilich so oder so fest auszugehen.

Berlin – Die finnische Regierung ist in Europa nicht als Hort des Euroskeptizismus bekannt, im Gegenteil. Doch schon am Freitag, als der Euro-Gipfel seinen neuen Plan zur Gründung einer Stabilitätsunion beschloss, gab Premierminister Jyrki Katainen in Brüssel einen Vorbehalt zu Protokoll: Ob sein Land sich an dem dauerhaften Euro-Rettungsfonds ESM beteiligen könne, müsse erst das Parlament entscheiden. So dringlich war dem Finnen sein Anliegen, dass er in der Abschlusserklärung eigens eine Fußnote erwirkte.

Der Vorgang wirft ein erstes Schlaglicht darauf, wie viel Probleme im Detail die Umsetzung der Gipfelbeschlüsse noch bergen dürfte. Dabei wirkt er auf den ersten Blick kurios. Denn der ESM soll auf einem völkerrechtlich bindenden Vertrag aufgebaut werden, und den müssen in den meisten Euro-Staaten die nationalen Parlamente ratifizieren. Auch der Bundestag wird gefragt. Doch die Finnen haben ein verfassungsrechtliches Spezialproblem ausgemacht. Nach dem Beschluss der Euro-Länder soll der ESM in ganz eiligen Fällen mit 85-Prozent-Mehrheit tätig werden statt, wie bisher geplant, im Einvernehmen aller Mitglieder. Für die Deutschen ist das kein Problem – sie stehen für 27,1 Prozent der Anteile am ESM gerade, ihr Stimmgewicht reicht deshalb für ein Veto locker aus. Die Finnen mit nur knapp 1,8 Prozent könnten Eilmaßnahmen nicht blockieren. Etliche Juristen und Abgeordnete in Helsinki sind überzeugt, dass einen solchen Souveränitätsverzicht in Haushaltsfragen das finnische Parlament höchstens mit verfassungsändernder Zwei-Drittel-Mehrheit billigen darf.

Die Finnen dürften nicht die einzigen sein, bei denen dieser oder jener Teil der Brüsseler Beschlüsse knifflige Fragen des eigenen Verfassungsrechts aufwirft. So wird etwa auch die Idee, dass die EU-Kommission festlegen soll, welche Sanktionen künftig Schuldensünder hinnehmen müssen, ihre Grenzen an nationalen Grenzen finden. Ein Durchgriffsrecht auf nationale Haushalte kommt da sicher nicht in Frage; die Strafen dürften sich im Bereich des EU-Rechts bewegen, vom zeitweisen Entzug bestimmter Stimmrechte bis zum Stopp mancher Hilfszahlungen aus Brüsseler Töpfen.

Da das politische Interesse hoch ist, in den Akkord der Eurozone möglichst viele der übrigen EU-Mitglieder einzubeziehen, wartet auf die Juristen in den Mitgliedstaaten wie in Brüssel viel Arbeit. Denn die Zustimmung der Regierungschefs am Freitag ist weiter nichts als eine politische Absichtserklärung. Rechtlich verbindlich werden die Vereinbarungen – von der Selbstverpflichtung, eine Schuldenbremse national zu verankern, bis hin zu automatischen Sanktionen und der Anerkennung des Europäischen Gerichtshofs als Wächter über die nationale Gesetzgebung – erst mit einem weiteren völkerrechtlich bindenden Vertrag. Auch der muss in der Regel von den nationalen Parlamenten gebilligt werden. Schon im Vorfeld gab es in der Bundesregierung Überlegungen, diesen Vertrag sozusagen Huckepack an den ESM-Vertrag anzudocken. Das würde nur ein Votum erforderlich machen statt zwei. Dass irgendwer gegen das fertige Vertragswerk gen Karlsruhe ziehen wird, davon ist freilich so oder so fest auszugehen.

Kompliziert wird die Umsetzung der Beschlüsse aber noch an einer zweiten juristischen Front: Das „neue“ Europa darf bei seinem vertraglichen Gründungsakt nicht gegen den Vertrag von Lissabon verstoßen. Der britische Premier David Cameron hat nach seinem Nein zu Vertragsänderungen im Rahmen aller – seit Kroatiens Aufnahme: 28 – Mitglieder schon mal kurz angedeutet, dass das leichter klingt als es vielleicht ist. Die EU-Institutionen, merkte Cameron spitz an, dienten der gesamten Gemeinschaft. Will sagen: Wenn sich ein Club im Club gründet – und selbst wenn er alle außer den Briten umfasst –, dann kann er nicht selbstverständlich Kommission, Gerichtshof und anderes für sich einspannen.

Die logische Konsequenz wäre eine eigene Euro-Eurokratie; eine Konsequenz, an die allerdings niemand ernsthaft denkt. Auch der Brite hat die Drohung später abgeschwächt. Schließlich kann selbst er kein Interesse daran haben, dass sein politischer Teil-Ausstieg aus Europa sich institutionell zur Außenseiterposition mit eigenem Klingelschild verfestigt. Aber schon während der Gipfel-Beratungen war das Grundproblem präsent. Die Eurozone ist im Lissabon-Vertrag umfassend geregelt. Ein „Vertrag neben dem Vertrag“ darf damit nicht kollidieren. An der nächtlichen Runde, in der die Chefs sonst strikt unter sich sind, nahm deshalb diesmal ein Brüsseler Spitzenjurist teil.

Robert Birnbaum

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