Verdi-Chef Bsirske: „Es kommt nicht allein auf die Bezahlung an“
Die Pflege müsse wieder attraktiv werden: Frank Bsirske, Vorsitzender der Gewerkschaft Verdi, über die Krise der Pflege, Scheinselbstständige – und die Flüchtlingsdebatte.
Herr Bsirske, wann haben Sie das letzte Mal bei Amazon bestellt?
Das liegt längere Zeit zurück. Ich kaufe lieber in einem Geschäft mit tariflich bezahlten Beschäftigten. Wir haben viele Mitglieder bei Amazon, und die wollen attraktive und gesundheitsverträgliche Arbeitsbedingungen. Daran arbeiten wir seit Jahren mit Hilfe unserer Mitglieder, die sich zunehmend engagieren, immer wieder auch mit Streiks.
Warum gibt es dann noch keinen Tarifvertrag?
Wir haben es mit einem Unternehmen zu tun, das sich auf den Weg gemacht hat zum globalen Monopol, über enorme ökonomische Reserven verfügt und Tarifverträge strikt ablehnt. Die Warenströme können bei Streikaktionen von einem Lager zu einem anderen relativ einfach umgelenkt werden, weshalb auch eine Internationalisierung auf unserer Seite zwingend ist. Da gibt es erste Schritte in Polen, Spanien, Frankreich und Italien. Alles in allem müssen wir aber noch stärker werden, um einen Durchbruch zu erzielen.
Auch bei Ryanair streiken inzwischen Mitarbeiter in halb Europa für bessere Bedingungen. Gibt es einen Aufstand der prekär Beschäftigten?
Davon können wir noch nicht sprechen. Es gibt aber an verschiedenen Stellen Initiativen und einen Trend zur Selbstorganisation der Beschäftigten, weil sie sehen, dass Arbeitnehmer zusammen mehr erreichen können als jeder für sich alleine. In Berlin zum Beispiel haben wir deshalb einen Tarifvertrag beim Logistiker PIN hinbekommen.
Das ist bei den Zustelldiensten aber eher die Ausnahme.
Tatsächlich gibt es dort einen großen Anteil Scheinselbstständiger und bei den eingesetzten Subunternehmen systematische Verstöße gegen das Mindestlohn- und Arbeitszeitgesetz. Dazu bräuchte es Regelungen, wie es sie in der Fleischwirtschaft schon seit 2017 gibt: Eine Nachunternehmerhaftung, die die großen Paketdienste wie Hermes in die Pflicht nimmt für Gesetzesverstöße bei Subunternehmern. Nachdem die Agenda 2010 den Höhepunkt der De-Regulierung des Arbeitsmarktes darstellte, muss das Pendel wieder zurück- schwingen. Deshalb tritt Verdi für eine neue Sicherheit der Arbeit ein und für eine Re-Regulierung des Arbeitsmarktes, und das durchaus mit Erfolgen.
Welche?
An erster Stelle natürlich der gesetzliche Mindestlohn. Den haben wir durchsetzen können, weil wir ihn mit der grundsätzlichen Frage verbunden haben: In was für einer Gesellschaft wollen wir eigentlich leben? Und die Mehrheit der Menschen will nicht in einer Gesellschaft leben, in der Arbeit arm macht und entwürdigt. Da ist der Gesetzgeber dann gefordert regulierend einzugreifen, genauso wie bei der Leiharbeit, der Scheinselbstständigkeit oder dem Missbrauch von Befristungen. Und ganz wichtig: Zu einer neuen Sicherheit der Arbeit gehört auch die Stärkung der Tarifbindung.
Das hat Angela Merkel vor Jahren auch schon gesagt.
Ja, das Thema dann aber nicht weiterverfolgt. Dabei muss dringend dafür gesorgt werden, dass Arbeitgeber die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen nicht länger einfach blockieren können. Wie wichtig das ist, sehen wir in der Altenpflege. Da verhandeln wir gerade mit den Wohlfahrtsverbänden einen Tarifvertrag, der dann auf gemeinsame Initiative der Tarifpartner ins Arbeitsnehmerentsendegesetz einbezogen werden soll, um ihn so für alle anderen Arbeitgeber verbindlich zu machen. Auch für die privaten und die ausländischen Anbieter, die sich bislang anständigen Arbeitsbedingungen verweigern.
Und die Politik unterstützt das?
Aus dem Arbeitsministerium gibt es entsprechende Signale. Und auch die Koalitionsvereinbarung ist so angelegt. Deshalb bin ich da optimistisch.
Und dann gibt es die 50.000 zusätzlichen Pflegekräfte, die sich die Bundesregierung wünscht?
Es kommt dabei nicht allein auf die Bezahlung an. Es muss attraktiv werden, in diesem Bereich auszubilden und ausgebildet zu werden. Die privaten Heimanbieter möchten den Anteil der Fachkräfte in den Einrichtungen unter 50 Prozent senken. Das geht genauso in die falsche Richtung wie die Pläne der Regierung zur Lockerung der Ausbildungsbedingungen.
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Das könnte die Einstellungsschwelle senken.
Das zielt vor allem auf die Senkung der Einkommen. De-Qualifizierung kann aber nicht die Lösung sein. Eine Prognos-Studie empfiehlt vielmehr Zusatzqualifizierungs- und Karrierepfade, um den Pflegeberuf aufzuwerten. Die Herausforderung ist jedenfalls enorm: 2030 werden wir ungefähr ein Drittel mehr Pflegebedürftige haben als heute, doch das Berufsfeld der Pflege ist immer noch prekär. Das kann nicht funktionieren.
Deshalb gibt es die „Konzertierte Aktion Pflege“ von drei Bundesministern.
Ja, den Worten müssen jetzt Taten folgen. Immerhin steht die Pflege auf der Prioritätenliste der Bundesregierung ganz oben.
Schwierige Arbeitsbedingungen gibt es auch in der Krankenpflege. Was tut sich da?
Eine Menge. Derzeit befinden wir uns in Arbeitskämpfen in den Unikliniken Essen, Düsseldorf und Homburg und haben gute Voraussetzungen, sie zum Erfolg zu führen: Die Leute haben die Nase voll.
Gilt das für Schwestern und Pfleger oder das gesamte Krankenhauspersonal?
In der Ärzteschaft wurde Personal aufgebaut, in der Pflege abgebaut. Die sind jetzt an einem Punkt, wo es reicht. Der Teilzeitanteil unter den 433 000 Krankenhauspflegekräften liegt bei rund 50 Prozent. Viele Beschäftigte reduzieren von sich aus und nehmen geringere Löhne in Kauf, weil die Belastungen sonst einfach zu groß sind. Nun gibt es erste Verbesserungen: Mehrkosten für höhere Einkommen oder mehr Personal werden seit diesem Jahr zu 100 Prozent von den Kassen refinanziert, das hat die Bundesregierung beschlossen. Wir brauchen aber eine gesetzliche Regelung für Mindestbesetzungen.
Das will Gesundheitsminister Spahn auch?
Ja. Es ist allerdings die Frage, was der Maßstab ist und wie man rechnet. Spahn kommt in Summe auf Mehrkosten von 220 Millionen Euro. Das reicht aber gerade einmal für rund 5000 zusätzliche Stellen - reicht also hinten und vorne nicht. Für eine vernünftige Betreuung im Krankenhaus brauchen wir 80 000 zusätzliche Schwestern und Pfleger, wenn wir uns am Pflegebedarf der Patienten und nicht an irgendwelchen Fallpauschalen orientieren.
Wie verhält sich Olaf Scholz zu den Milliardenkosten, allein mit Beiträgen wird das nicht funktionieren?
Die Anforderungen für den Bund im Rentenbereich haben noch eine ganz andere Dimension. Deshalb wird der Finanzminister beim Thema Beiträge oder Steuern vor allem dort hinschauen.
Weil das derzeitige Rentenniveau von 48 Prozent bis 2025 garantiert wird. Was kostet das?
Das hängt von verschiedenen Faktoren ab, unter anderem von der Situation auf dem Arbeitsmarkt und der Finanzierung der versicherungsfremden Leistungen. Es gibt eine Untersuchung der Hans-Böckler-Stiftung: Die Rentenversicherung wird demnach jährlich mit 113 Milliarden Euro versicherungsfremder Leistungen wie etwa Mütterrente belastet, dem ein Bundeszuschuss von knapp 65 Milliarden Euro gegenübersteht. Wenn alle versicherungsfremden Leistungen aus Steuermitteln und nicht aus Beiträgen finanziert würden, entlastete das die Beiträge um bis zu vier Prozent. Wir sind jetzt gespannt, welche Empfehlungen die Rentenkommission der großen Koalition geben wird.
Sind Sie zufrieden mit den ersten Monaten der Koalition?
Wir haben erlebt, wie die CSU das Geschäft der AfD betreibt und dafür auch den Sturz der Kanzlerin billigend in Kauf nehmen wollte. Ergebnis: Die Union liegt bei 29 Prozent, die CSU auf einem historischen Tiefstand. Auf der anderen Seite sehen wir eine ganze Reihe von Gesetzesinitiativen, die sich mit den Namen Heil (Rente und Sozialer Arbeitsmarkt), Spahn (Pflege) sowie Giffey (Gute-Kita-Gesetz) verbinden. Mit durchaus beachtlichem Tempo werden da Themen angepackt, die lange liegengelassen wurden.
Reicht das aus, um die AfD wieder kleinzu- kriegen?
Dazu müssen die Alltagssorgen vieler Menschen angegangen werden. Es war völlig unsinnig, das Flüchtlingsthema so zu exponieren und zu dramatisieren. Die Mieten -und Wohnungsproblematik belastet viele Menschen deutlich mehr, ebenso die Sorge um Einkommen und Lebensniveau im Alter, also die Höhe der Rente. Bei diesen Themen müssen wir in der nächsten Zeit weiterkommen.
Tarifpolitisch ist 2018 so gut wie gelaufen?
Nein, in der Druckindustrie steht eine große Auseinandersetzung bevor, weil die Arbeitgeber die Einkommen um rund ein Fünftel kürzen wollen. Im Einzelhandel geht es beim SB Warenhaus „Real“ um einen Großkonflikt, nachdem der Arbeitgeber auf Tarifflucht setzt und das Lohnniveau drastisch absenken möchte. Und auch im Bewachungsgewerbe und bei den Bodenverkehrsdiensten an Flughäfen stehen 2018 wichtige tarifliche Weichenstellungen an.
Was ist mit Kaufhof und Karstadt?
Sollte es zu einer Fusion kommen und eine Deutsche Warenhaus AG entstehen, gilt es Löhne, Arbeitsplätze und Standorte zu sichern.
Wer führt Verdi, wenn Sie im Herbst nächsten Jahres in Rente gehen?
Das Präsidium des Gewerkschaftsrats ist beauftragt, bis November einen Vorschlag zu machen, so dass die Wahlen auf dem ver.di-Bundeskongress 2019 gut vorbereitet werden können.
Zur Person: Frank Bsirske (66) wurde 1952 im niedersächsischen Helmstedt als Sohn eines VW-Arbeiters und einer Krankenschwester geboren. Bis 1978 studierte er Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der FU-Berlin. 1987 wurde er Fraktionsmitarbeiter der Grünen Alternativen Bürgerliste im Stadtrat von Hannover. In den 90er Jahren machte er Karriere in der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), deren Vorsitzender er 2000 wurde. Ein Jahr später ging diese in der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) auf. Seither ist er ihr Vorsitzender. Im Herbst 2019 will Bsirske abtreten. Verdi ist mit knapp zwei Millionen Mitgliedern die größte Einzelgewerkschaft nach der IG Metall.