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Vernetzt: Die Next-Box, die beim Kunden installiert wird, enthält die Schnittstellen für die Kommunikation mit der Zentrale.
© Jennifer Braun/promo

Virtuelle Kraftwerke: Die Zusammenschalter

Das Unternehmen Next Kraftwerke verbindet mehr als 5000 Betreiber von Erneuerbare-Energien-Anlagen. Ein Beispiel für die Energiewelt der Zukunft.

Zu den wichtigsten Aufgaben des Schleswig-Holsteiners gehört es, überschüssiges Regenwasser aus dem Marschland in die Nordsee zu pumpen – andernfalls ist viel Land bald nicht mehr zu bewirtschaften und zu bewohnen. Normalerweise orientiert er sich bei seiner Entscheidung für das Pumpen am Wasserstand. Im Örtchen Heide gibt es seit 2015 aber noch einen wichtigen Parameter: den Strompreis.

Drei der Schöpfwerke des örtlichen Deich- und Hauptsielverbandes Dithmarschen (DHSV) pumpen seither nämlich mit Strom, den sie von Next Kraftwerke aus Köln bekommen. Deren variabler Stromtarif heißt nicht zufällig „Best of 96“. An der Strombörse ändert sich der Preis 96-mal am Tag, alle Viertelstunde. Und diese Preisunterschiede nutzen sie jetzt in Heide. „Unser System wählt vollautomatisch die günstigsten Viertelstunden an der Strombörse aus, in denen wir das Regenwasser in die Nordsee pumpen“, sagt Matthias Reimers, der Geschäftsführer des DHSV. „So konnten wir unseren Energiepreis um rund 30 Prozent im Vergleich zum vorherigen Vertrag senken.“

Und das, ohne harte Einschränkungen beim Betrieb der Pumpen hinnehmen zu müssen. Next Kraftwerke bietet zwar die Möglichkeit, den Strom zu den günstigsten Zeiten zu verbrauchen, die letzte Entscheidung fällt aber in Heide. Dass der DHSV einen flexiblen Stromtarif hat, passt auch gut zur Historie: „Schon vor 700 Jahren nutzten unsere Vorfahren ihre Windmühlen, um das Marschland trocken zu halten“, sagt Reimers. „Heute tun wir das wieder, nur über den Umweg der Strombörse und weitaus flexibler als früher.“

Von der Forschung beim EWI zur Unternehmensgründung

Wenn es darum geht, Produzenten und Verbraucher von erneuerbaren Energien miteinander zu vernetzen, gehört das Unternehmen Next Kraftwerke zu den Pionieren und heute auch zu den Marktführern. 2009 hatten die Gründer und Geschäftsführer Hendrik Sämisch und Jochen Schwill beim Kölsch in der Kneipe die Idee, aus einem sogenannten virtuellen Kraftwerk ein Geschäft zu machen. Heute gehören sie zu den größten Anbietern in Europa und beschäftigen insgesamt 150 Mitarbeiter – die meisten davon in einem schick restaurierten Fabrik-Innenhof in Köln-Ehrenfeld, wo früher Gaslaternen hergestellt wurden. Hier hat sich Tagesspiegel Background umgeschaut, um einen der wichtigen Akteure der deutschen Energiewende besser zu verstehen.

Es ist nicht so, dass die Gründer Sämisch und Schwill das Konzept des virtuellen Kraftwerks erfunden hätten. Der Diplom-Volkswirt Sämisch und der Wirtschaftsingenieur Schwill arbeiteten beide am Energiewirtschaftlichen Institut (EWI) der Universität Köln. Sie forschten gerade für die die Netzstudie II der Deutschen Energie-Agentur (Dena) und untersuchten, wie sich der Zubau von erneuerbaren Energien auf die Märkte und Netze auswirkt. Da stießen sie auf die Idee des virtuellen Kraftwerks und sahen das Geschäftspotenzial darin. Auch der Algorithmus, der bei Next Produktion und Verbrauch der Erneuerbaren an Tausenden von Stellen steuert, war nicht völlig neu. Er basiert auf einer Applikation von ABB. Auf dieser Grundlage entwickelte Sebastian Hölemann, Ingenieur von der RWTH Aachen und Leiter des virtuellen Kraftwerks bei Next, eine eigene Logik.

Die ausgeklügelte Software ermöglicht es den Kölnern, den Handel von Ökostrom an der Börse mit verschiedenen variablen Stromtarifen für seine Kunden und dem Angebot von Regelenergie sehr genau abzustimmen. Das ist auch nötig bei 5140 Kraftwerksbetreibern mit einer installierten Leistung von 4032 Megawatt (MW), die Next zurzeit unter Vertrag hat. In Deutschland verteilt sich die Leistung so: Biogas und Wasserkraft machen zusammen 1571 MW aus, Solar 1255 MW, Wind 750 MW, Notstromaggregate und Kraft-Wärme-Kopplung 76 MW. Die Differenz zur Gesamtsumme ergibt sich aus den Auslandsaktivitäten von Next. Da die Bioenergie wesentlich mehr Volllaststunden pro Jahr schafft als Wind oder Solar, ist ihr Anteil am produzierten Strom noch deutlich höher als der an der installierten Leistung. Eine exakte Zahl weist Next aber nicht aus.

Das Unternehmen hat übrigens eine Kooperation mit dem norwegischen Direktvermarkter Statkraft. „Die handeln unseren Windstrom, wir deren Bioenergie“, sagt Next-Sprecher Jan Aengenvoort. Die Arbeitsteilung sei für beide Seiten ökonomisch.

Das Investment ist nach einem Jahr hereingespielt

Next bietet seine Dienstleistungen Stromerzeugern ab 100 Kilowatt installierter Leistung an. Die Stromverbraucher liegen bei mindestens 100.000 Kilowattstunden pro Jahr. Da Next mittlerweile in der Branche bekannt ist, melden sich allein über die Homepage rund 600 potenzielle Kunden pro Jahr. Werden sich beide Seiten einig, muss der Kunde für die Hardware einmalig 2000 bis 5000 Euro investieren. In einigen Fällen finanziert Next die Technik auch vor und verrechnet dies später mit der Vergütung. Unabhängig davon: Nach spätestens einem Jahr hätten die Kunden das Investment wieder drin, sagt Aengenvoort. Dadurch, dass die Next-Kunden ihren Strom möglichst zu Zeiten hoher Börsenpreise produzieren, können sie ihren Erlös über das ganze Jahr deutlich steigern.

Die sogenannte Next Box aus hellgrauem Metall ist klein und unscheinbar. Doch sie enthält einen Computer und die Schnittstellen, die nötig sind, um das Kraftwerk des Erzeugers mit den Servern von Next zu verbinden. Die beiden Großrechner stehen nicht in Köln, die Standorte werden nicht verraten, weil auch Next zu den sogenannten kritischen Infrastrukuren gehört, die vor Hackerangriffen und Terroranschlägen unbedingt geschützt werden müssen. Lieber spricht man bei Next darüber, dass der eine Server innerhalb von zwei bis drei Sekunden die Arbeit des anderen vollständig übernehmen kann. Alle Leitungen sind ohnehin gesichert.

Reaktion auf Stromüberschuss in Sekundenschnelle

Ein Mann arbeitet an einer Biogasanlage. Kraftwerke wie dieses vernetzt Next.
Ein Mann arbeitet an einer Biogasanlage. Kraftwerke wie dieses vernetzt Next.
© ZB/Jan Woitas/dpa

Das gilt auch für die GPRS-Mobilfunkverbindungen zwischen der Next Box beim Stromerzeuger und den Servern. Sie sind über einen VPN-Tunnel verschlüsselt, die Daten dürfen nicht über das öffentliche Netz gehen. Jede Next Box hat zwei SIM-Karten, eine von der Deutschen Telekom, eine von Telefónica. So ist jederzeit eine Verbindung gewährleistet. Die Boxen werden bei Next selbst mit den Parametern für den einzelnen Kunden bespielt und dann verschickt. Den Einbau übernehmen Leute vom Hersteller der Erneuerbaren-Anlage oder Wartungspersonal vor Ort.

Die Boxen werden bei sehr unterschiedlichen Kunden eingebaut: Da ist die Trinkwasseraufbereitung am Bodensee, die fünf Millionen Menschen in Süddeutschland versorgt und ihren Strom von Next immer dann bezieht, wenn er besonders günstig ist. Da ist der Biogasproduzent Peter Hecht aus Franken, der seinen Rohstoff nur dann einsetzt, wenn Strom knapp ist. Er sagt: „Biogas ist als Speicher effizienter als jede Batterie.“ Oder Gerd Clasen, Betriebsleiter von KBB Biogas im niedersächsischen Kirchlinteln. Er bietet seit 2013 auch die besonders lukrative Sekundärregelleistung am Strommarkt an, die innerhalb von fünf Minuten zur Verfügung stehen muss. Als Next die Reserve zum ersten Mal abrief, bekam Clasen eine SMS, als er bei Kaffee und Kuchen saß. Er konnte live zuschauen, wie sein Blockheizkraftwerk von Köln aus vollautomatisch runter- und hochgefahren wurde.

Bernhard Timmer, technischer Leiter der LWL-Kliniken in Dortmund, bietet seine Notstromaggregate am Regelenergiemarkt an. Die Dieseltanks sind so groß, dass sie bis zu 35 Stunden Stromausfall überbrücken können. „Da fallen einzelne Regelenergieabrufe von 15 Minuten kaum ins Gewicht“, sagt Timmer. Die Next-Zentrale hat generell auch immer Daten in Echtzeit über den Füllstand der Tanks. Ist so wenig Diesel da, dass die Notversorgung des Krankenhauses gefährdet wäre, wird das Aggregat von Next gar nicht zugeschaltet.

„Gemeinsam sind wir Megawatt“ war einer der ersten Werbesprüche der Kölner, die stolz darauf sind, ein Kraftwerk ohne eigenes Kraftwerk zu sein. Heute heißt der Spruch „Gemeinsam sind wir Gigawatt“. Das Wachstum schlägt sich auch in Geld nieder: Der letzte veröffentlichte Umsatz von 2015 betrug 273 Millionen Euro, der erwartete für 2017 liegt bei 400 Millionen Euro. Seit 2013 schreibt Next schwarze Zahlen, stemmt Investitionen vorwiegend aus Eigenmitteln. Teilhaber der GmbH sind neben Sämisch und Schwill der High-Tech-Gründerfonds HTGF, der Hamburger Fonds Neuhaus Partners und seit Mai 2017 der niederländische Erneuerbaren-Konzern Eneco, der 34 Prozent an Next hält. „Eneco will bei uns vom Geschäftsmodell und der Technologie lernen“, sagt Aengenvoort.

Expansion ins europäische Ausland

Für Next ist aber nicht von Schaden, einen starken Partner an der Seite zu haben. In der Branche herrscht ein extrem harter Wettbewerb. Seit 2012 ist der Abruf an Regelleistung deutlich gesunken. „Und Flexibilität ist am Markt so wenig wert wie noch nie“, beklagt Aengenvoort. So muss Next über Expansion Skaleneffekte heben, weil der Gewinn pro Kilowattstunde so niedrig ist. Zu dieser Strategie gehört auch, dass Next mittlerweile in den Niederlanden, Belgien, Frankreich, Österreich, Italien, Polen und der Schweiz aktiv ist.

Dort laufen die Geschäfte nach Aengenvoorts Darstellung ziemlich problemlos. Die Behörden stünden dem neuartigen Geschäftsmodell zum Teil aufgeschlossener gegenüber als in Deutschland. Überhaupt haben sie bei Next Sorge, dass die Bundesrepublik ihre Vorreiterrolle bei der Energiewende verspielt. So könnten zum Beispiel heute Bilanzkreisverantwortliche Preise für die Verrechnung der abgerufenen Mengen der Regelenergie aus Notstromaggregaten festlegen, die das Geschäft völlig unintereressant machen. Eine Forderung der Kölner ist auch, die Entgelte für die Stromnetze zu dynamisieren. Damit sollten diejenigen Nutzer belohnt werden, die sich netzdienlich verhalten, bei Überschüssen im Netz also viel Strom abnehmen und umgekehrt. Das ganz große Thema ist aber der Kohleausstieg. Dabei will Aengenvoort ein Missverständnis aus der Welt schaffen: „Wir profitieren nicht von höheren Strompreisen, aber von mehr Bedarf nach Flexibilität.“

Was Next und die Erneuerbaren gemeinsam leisten, zeigt Systemingenieur Paul Weingart im virtuellen Kraftwerk. Ein Netzbetreiber gibt die Anweisung, schnell überschüssigen Strom aus dem System zu nehmen. Der Next-Algorithmus entscheidet in Sekunden, welche Anlage im Pool wie reagiert. Die Power-to-Gas-Anlage von Greenpeace Energy und Stadtwerk Haßfurth zieht sofort mehr Strom und produziert daraus Gas. „Die Anlage schafft einen Riesenhub in neun Sekunden“, sagt Weingart. Er muss nicht eingreifen, nur auf den Bildschirm schauen. Ein bisschen staunt er immer noch.

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