Koalitionsvertrag: Die Wirtschaft hätte sich Steuererleichterungen gewünscht
Die Spitzenverbände der Wirtschaft kritisieren den Koalitionsvertrag – aber Investitionen in Bildung, Wohnen, Infrastruktur und Digitales finden Gefallen.
Die Reaktionen aus der Wirtschaft auf die Koalitionsvereinbarung fallen so unterschiedlich aus wie die Interessen, die Union und SPD auf 177 Seiten miteinander vereinbaren mussten. Kritik zieht sich quer durch alle Branchen und Verbände sowie Gewerkschaften und Lobbyvereine. Begrüßt wird allgemein, dass die neue Regierung mehr in Bildung, in den Wohnungsbau, in die Infrastruktur und die Digitalisierung investieren will. Vermisst wird ein großer Wurf, eine Vision für die Zukunft.
Die geplanten Milliardenausgaben, deren Gesamthöhe noch offen ist, stoßen vor allem bei Wirtschaftsvertretern auf Kritik. Von einer „klaren Schieflage in Richtung Umverteilung anstatt in Zukunftssicherung“, sprach der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI). „Die Leistungsträger werden enttäuscht und der Sozialstaat explosionsartig ausgeweitet“, bemängelte der Arbeitgeberverband Gesamtmetall. Bei den Gewerkschaften stieß hingegen „auf pures Unverständnis“, dass die neue Regierung an einem ausgeglichenen Haushalt festhalten will.
An der Börse spielte die Koalitionsvereinbarung keine größere Rolle. Die Erholung der Aktienkurse wurde vielmehr als Reaktion auf die massiven Verluste in den vergangenen Tagen gedeutet. Eine stabile Regierung in Berlin nimmt nach Meinung von Experten aber Unsicherheit aus dem aktuell extrem nervösen Kapitalmarkt.
"Scheußlicher als erwartet"
„Dieser Vertrag ist noch scheußlicher als erwartet“, sagte Gesamtmetall-Hauptgeschäftsführer Oliver Zander. Unruhig werde man, wenn man an die mittel- und langfristigen Folgen der höheren Sozialausgaben denke. „Das ist ein trauriger Tag für dieses Land.“ Heftig fiel auch die Kritik von Arbeitgeber-Präsident Ingo Kramer aus: „Im Vergleich zum Sondierungsergebnis bedeutet der Koalitionsvertrag eine dramatische Verschlechterung aus Sicht der Wirtschaft.“ Die künftige Wettbewerbsfähigkeit der hiesigen Firmen werde zu wenig beachtet.
Die deutsche Industrie sei „in der Gesamtschau“ mit dem Koalitionsvertrag unzufrieden, erklärte BDI-Präsident Dieter Kempf. Den Ruf nach deutlicheren Steuersenkungen hatten die Koalitionäre nicht erwidert. In der Steuerpolitik fehle trotz guter wirtschaftlicher Lage „der Mut zu spürbaren Entlastungen und zu Strukturreformen“, kritisierte Kempf. Deutschland müsse sich dringend dem internationalen Steuerwettbewerb stellen. „Wir vermissen ein klares Bekenntnis zur steuerlichen Förderung von Forschung und Entwicklung“, sagte der BDI-Präsident.
Auch der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Eric Schweitzer, erklärte, dass er sich im Sinne der deutschen Wirtschaft „mutigere Entscheidungen“ gewünscht hätte. Die Wirtschaft freue sich zwar über „einige gute Zukunftsinvestitionen“. Ein großer Schwachpunkt sei aber der Verzicht auf Steuerentlastungen – „und das zu einem Zeitpunkt, an dem wichtige Standortkonkurrenten die Steuern senken“, kritisierte Schweitzer – auch mit Blick auf die wirtschaftsfreundliche Steuerreform in den USA. „Uns ist völlig unverständlich, dass eine Unternehmenssteuerreform nicht angegangen wird“, sagte dazu DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben. Bei Themen wie dem Bürokratieabbau fehle es an Konkretisierungen. Zudem lasse die künftige Regierung zu wenig Spiel- und Freiräume für Unternehmen. Außenhandels-Präsident Holger Bingmann sprach von einem „Schönwetter- Koalitionsvertrag“, der nur funktioniere, wenn der Konjunkturboom anhalte.
Deutlich moderater bis freundlich fielen die Kommentare aus der Finanz-, Digital- und Verkehrsbranche aus. Auch der Start-up-Verband sieht nahezu alle seine Forderungen – etwa nach besseren Finanzierungsbedingungen – erfüllt.
„Trotz einiger Schwächen, etwa in der Steuerpolitik, ist dieser Koalitionsvertrag eine gute Grundlage für eine erfolgreiche Regierungsarbeit“, sagte Banken-Präsident Hans-Walter Peters. Positiv sei beispielsweise, dass sich die neue Merkel-Regierung stärker um die Attraktivität des Finanzplatzes Deutschland kümmern wolle. Auch die Überprüfung der Bankenregulierung sei ein gutes Signal.
Digitalisierungsbranche freut sich
Der High-Tech-Verband Bitkom nannte die Vereinbarungen zum Digitalbereich „einen riesigen Schritt nach vorne“. Es sei gut, dass die Digitalisierung nun eine stärkere Rolle spielen solle. So sollen bis zum Jahr 2025 flächendeckend Gigabit-Netze bereitstehen, Union und SPD wollen dabei einen Wechsel hin zu modernem Glasfaser. Allerdings zeigte sich die Branche enttäuscht darüber, dass es kein eigenes Ressort für Digitales in der neuen Bundesregierung geben wird. Zuständig wird weiterhin das Bundesverkehrsministerium sein, das auch schon in der vergangenen Legislaturperiode für digitale Infrastruktur verantwortlich war.
Auf Ablehnung stieß die Koalitionsvereinbarung bei Umweltverbänden. „Der gesamte Koalitionsvertrag ist vom mangelhaftem Anspruchsniveau im Bereich Umwelt- und Verbraucherschutz gekennzeichnet“, sagte Sascha Müller-Kraenner, Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe. „Der Umweltpolitik in Deutschland drohen vier weitere bleierne Jahre.“ Der ökologische Verkehrsclub VCD begrüßte zwar, dass die Koalition einen „Investitionshochlauf auf Rekordniveau“ im Bereich der Verkehrsinfrastruktur ankündigt und gezielt den Bahn-Verkehr und die Elektromobilität fördern will. Der Koalitionsvertrag trage aber keine klare Handschrift. „Die Bahn kommt in Fahrt, doch Klimaschutz und Verkehrswende stehen weiter im Stau“, urteilte der VCD. Das sieht der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen anders. Er bewertete den Koalitionsvertrag, der eine Stärkung des öffentlichen Personenverkehrs und des Schienengüterverkehrs vorsieht, als „äußerst positiv“.
Auf wenig Gegenliebe bei der Autoindustrie stoßen die Pläne der Koalition, auch Hardware-Nachrüstungen für älteren Dieselwagen zu prüfen. Matthias Wissmann, Präsident des Autoverbandes VDA, begrüßte indes, „dass das Bekenntnis zum internationalen Klimaschutz verbunden wird mit einer zukunftsorientierten Industriepolitik“. Man sei sich „mit den Koalitionären einig darin, dass Einfahrverbote für Dieselfahrzeuge in Städte unbedingt vermieden werden sollen“.