Wem gehören meine Gesundheitsdaten?: Die Vermessung des Patienten
Die Gesundheitsdaten der Deutschen sind Goldstaub für die Forschung. Jetzt wird diskutiert, wie man sie verfügbar macht. Und wer sie alles bekommen darf.
Gesundheit ist ein Wert, für die meisten Menschen wahrscheinlich sogar der höchste – messbar ist Gesundheit aber kaum. Doch wie lange der medizinische Allgemeinzustand des Menschen eine abstrakte Größe bleibt, diese Frage stellt sich immer drängender, zum Beispiel für die deutsche Gesundheitspolitik.
Dort werden gerade, weitgehend unbeachtet von der breiten Öffentlichkeit, die Weichen gestellt für ein völlig neues Verständnis des Patienten in deutschen Kliniken und den Arztpraxen. Der Patient, das unbekannte Wesen, soll entschlüsselt werden, um damit immer mehr Krankheiten immer besser heilen zu können.
Das Ziel ist nicht neu, wohl aber sind es die Erfolgsaussichten, so jedenfalls die Hoffnung vieler Wissenschaftler und von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Ein paar Hindernisse hat er aber noch zu überwinden. Unter Umständen auch das Gendiagnostikgesetz in seiner jetzigen Form.
Gesundheitsdaten; das ist im Prinzip alles, was im Kontakt zwischen Bürgern auf der einen und Ärzten, Apotheken, Therapeuten auf der anderen Seite anläuft, aber auch das, was zum Beispiel über Fitness-Apps erhoben wird. Die Menge der Daten steigt jeden Tag in unvorstellbarem Ausmaß, sie liegen in Arztpraxen, auf Smartphones, auf Klinikservern, verteilt wie Goldstaub – der aber erst zu wahrem Gold wird, wenn man ihn zusammenführt.
Die materialisierte Grundlage dieses Mega-Projekts trägt fast jeder gesetzlich Krankenversicherte (GKV) in seinem Portmonee: Die elektronische Gesundheitskarte. Sie ist der Schlüssel zur elektronischen Patientenakte (ePA), dem wichtigsten Projekt von Gesundheitsminister Spahn, sieht man von seinem Run aufs Kanzleramt ab.
Ab 2021 für alle GKV-Mitglieder
Die ePA wird ab Januar 2021 für alle GKV-Mitglieder angeboten, in ihr können Ärzte, aber auch Patienten Dokumente ablegen. Zuerst wird es nur eine sehr rudimentäre digitale Ablage sein, vorrangig für PDF-Dokumente. Der Chef der Kassenärzte, Andreas Gassen, sprach schon von einer „elektronischen Aldi-Tüte“. Doch mit Riesenschritten soll die ePA danach ausgebaut werden. 2023 steht die „forschungskompatible ePA“, wird im gerade von Jens Spahn vorgelegten Patientendaten-Schutzgesetz angekündigt. Was in die ePA rein kommt und wer darauf Zugriff hat, darüber wird hinter den Kulissen der Gesundheitspolitik gerade diskutiert, Ausgang ungewiss.
Die elektronische Gesundheitskarte wird von Jens Spahn auch gerne als „der BER des deutschen Gesundheitswesens“ bezeichnet – vor mehr als zehn Jahren führte man sie nach gehörigen Startschwierigkeiten ein, und bis heute kann das viele Milliarden Euro teure Projekt im Prinzip nicht viel mehr als den Patienten beim Arzt anzumelden.
Zuständig für die Karte und alle mit ihr verbundenen Anwendungen ist die Betreibergesellschaft Gematik, an deren Spitze der Minister vor einem halben Jahr Markus Leyck Dieken setzte – gleichzeitig wurde dem Gesundheitsministerium eine 51-Prozent-Mehrheit an der Gematik ins Gesetz geschrieben. Seitdem geht alles ganz schnell, Spahn und Leyck Dieken können es sich nicht leisten, dass die ePA nicht pünktlich im Januar 2021 kommt. Für Leyck Dieken – von Hause aus Internist und Notfallmediziner – ist 2023 aber das wichtigere Datum, wie er nicht müde wird zu betonen.
„Langfristig wird die ePA zu einer biologischen Datenbank des Patienten, mit der Ärzte viel besser als bisher arbeiten können“, sagt er. „Es gibt ganz viele fundamentale Krankheiten, deren Ursachen noch nicht erkannt sind – geschweige denn, wie sie therapiert werden können. Durch Gesundheitsdaten können diese Zusammenhänge erst entdeckt werden.“ Allerdings funktioniere das nur mit großen Datenmengen möglichst vieler Versicherter, die dann elektronisch und mit Künstlicher Intelligenz verarbeitet werden müssten.
Das Gendiagnostikgesetz steht im Weg
Leyck Dieken geht es dabei auch, aber auf keinen Fall nur um Blutwerte, Röntgenbilder und medizinische Befunde; sondern um nicht weniger als den Code des Lebens, die Genomsequenzen der Patienten. Die ePA könne viele Informationen bereithalten, „über meine Familienanamnese, ob ich per Kaiserschnitt geboren und gestillt wurde – mein ganzes Leben wird es wichtige Daten geben, bis zu meinem Genom“.
Leyck Dieken drückt sich zurückhaltend aus, deutlicher wird der E-Health-Sprecher der Unions-Fraktion im Bundestag, Tino Sorge. „Wir müssen mutiger und mit Blick auf die die Chancen auch die gesellschaftliche Debatte führen, wie wir mit den neuen medizinischen Möglichkeiten umgehen“, sagt er. Doch prinzipiell besteht Einigkeit darüber, dass das Genom auf die ePA soll, auch im Gesundheitsministerium. „Allerdings ist klar“, sagt Tino Sorge, „dass dies nicht funktionieren wird, wenn wir nur abstrakt diskutieren, ohne dass der Patient einen spürbaren Nutzen erlebt.“
Auch wenn unumstritten ist, dass sämtliche Daten der ePA nur auf freiwilliger Basis der Forschung zur Verfügung gestellt werden, steht den aktuellen Plänen noch eine gewichtige Hürde im Weg: Das Gendiagnostikgesetz. Dieses macht es Privatpersonen bislang unmöglich, ihr Genom ohne Hinzuziehung eines Facharztes sequenzieren zu lassen, um daraus etwa Prognosen für die eigene Krankengeschichte ableiten zu können. Datenspenden für deutsche Forschungsinstitute fallen damit weg, gleichzeitig lassen immer mehr Deutsche ihr Genom im Ausland sequenzieren, etwa in den USA, wo Sequenzier-Kits in Drogerien für weniger als hundert Dollar angeboten werden.
Die Daten sollen der Forschung nützen
Er sei sicher, sagt Gematik-Chef Leyck Dieken, „dass es demokratische Bewegungen geben wird, die auf Änderungen hinwirken. Es gibt immer mehr Menschen, die ihr Genom außerhalb von Deutschland sequenzieren lassen. Die wollen natürlich künftig diese Daten in der ePA hinterlegen und nutzen können“. Wenn die „Kenntnis des eigenen Genoms eine bessere Prävention“ ermögliche, sollte diese Chance auch genutzt werden. „Die ePA könnte – nein sollte – dafür eines Tages auf demokratischem Weg ein Werkzeug werden.“ Leyck Dieken plädiert dafür, auch die Industrie zu berechtigen, auf Gesundheitsdaten zugreifen zu lassen.
Ähnlich äußerte sich gerade der Staatsekretär im Bundesforschungsministerium, Christian Luft. Beim Politischen Abend der Medizininformatik-Initiative sprach er sich für eine „Kultur des Datenaustausches“ aus. Sein Ministerium wolle sich in der Ressortabstimmung zum noch im Entwurfsstadium befindlichen ePA-Gesetz dafür einsetzen, dass die digitale Akte „sofort forschungskompatibel ist“.
Der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber hingegen will in Ruhe prüfen. Selbst nach Anonymisierung brauche es „nur wenige ergänzende Daten, um aus einem Datensatz einen Menschen zu identifizieren“, sagt er dem Tagesspiegel Background. „Aus diesem Grund muss gerade bei der Nutzung der Daten für die wissenschaftliche Forschung sensibel agiert werden.“ Skeptisch sieht er den Zugang der Industrie zu den ePA-Daten. „Viele Bürgerinnen und Bürger haben Vorbehalte gegenüber der Forschung durch die Pharmaindustrie. Das sollte berücksichtigt werden, auch um das Vertrauen in die Forschung zu erhalten.“
Derweil schauen Wissenschaftler und Gesundheitspolitiker gebannt ins Ausland, wo man bei der Nutzung von genomischen und Gesundheitsdaten schon weiter ist. Bei der Medizininformatik-Initiative sprach am Donnerstag neben Leyck Dieken auch Esti Shelly: Sie ist im israelischen Gesundheitsministerium für die E-Health-Strategie des Landes zuständig, Israel ist neben Estland, Kanada und Dänemark weltweit führend auf diesem Gebiet.
„Elektronische Patientenakten sind die Basis für alles“, fasste Shelly zusammen. An ihre deutschen Kollegen appellierte sie, keine langfristigen Pläne beim ePA-Projekt zu schmieden. „Die Realität ändert sich sowieso viel schneller als man es vorhersehen kann."