Netzneutralität: „Die Seele des Internets“
Monate wurde über die Netzneutralität in Europa gestritten. Jetzt wurden die Leitlinien veröffentlicht - doch Verbände fordern noch Nachbesserungen.
Berlin - Luca Nicotra ist so erleichtert, dass er am Dienstag als lachendes Smiley verkleidet durch Brüssel spazierte. Der Kampf hat sich aus seiner Sicht gelohnt, „der Kampf um die Seele des Internets ist gewonnen“, jubelte der Kampagnenleiter der globalen Bürgerbewegung Avaaz.
Künftig gibt es eine "Überholspur" - aber nur in Ausnahmefällen
Mehr als vier Wochen lang hatten die Mitglieder des Gremiums europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation (Gerek) unter dem Vorsitz des Deutschen Wolfgang Eschweiler, zugleich Vizepräsident der Bundesnetzagentur, über die Leitlinien zur sogenannten Netzneutralität beraten. Netzneutralität bedeutet, dass Internetprovider wie die Telekom alle Daten gleichrangig befördern müssen. Kritiker und Netzaktivisten wie Avaaz hatten jedoch befürchtet, dass die Telekommunikationsunternehmen ihre Stärke ausspielen und eine Art „Überholspur“ durchsetzen – mit der Folge, dass es in der Europäischen Union (EU) künftig ein Zwei-Klassen-Internet gibt. Doch die großen Unternehmen haben sich offensichtlich nicht durchsetzen können.
Am Dienstag veröffentlichte das Gerek die Leitlinien, mit denen nun die im vergangenen November beschlossene EU-Verordnung 2015/2120 zur Netzneutralität konkretisiert wird. Demnach wird sogenannten Spezialdiensten zwar eine Vorfahrt eingeräumt – aber nur unter bestimmten Voraussetzungen. Beispielsweise im Bereich Telemedizin oder dem Straßenverkehr, wo eine bevorzugte Echtzeitübertragung notwendig ist.
Kein "Erste-Klasse-Internet für Großkonzerne"
„Zum ersten Mal in der Geschichte werden die demokratischen Prinzipien des Internets durch ein Gesetz für eine halbe Milliarde Europäer garantiert“, sagte Avaaz-Aktivist Nicotra. „Das Gesetz wird Telekom-Unternehmen daran hindern, ein Erste-Klasse-Internet an Großkonzerne zu verkaufen, während alle anderen in der Zweiten Klasse feststecken.“ Am Ende habe der Druck der Bürger „das Internet für alle vor dem Versuch der großen Telekom-Unternehmen geschützt, das Gesetz zu verwässern.“
Mehr als 500 000 Zuschriften von Bürgern hatte die Gerek vor Beginn der Beratungen bekommen. Auch Klaus Müller, Chef des Bundesverbands der Verbraucherzentralen, bezeichnet die Leitlinien als „einen guten Kompromiss“. „Sie sind auf der einen Seite verbraucherfreundlich und setzen wettbewerbsschädlichen Praktiken Grenzen. Auf der anderen Seite lassen sie den Unternehmen ausreichenden Raum, ihre Netze zu optimieren sowie neue und innovative Geschäftsmodelle anzubieten“.
"Eine diskriminierungsfreie Durchleitung der Daten ist wirtschaftlich hoch relevant"
Doch nach der Veröffentlichung der Leitlinien am Dienstag sind nicht alle so zufrieden. Joachim Jobi vom Bundesverband Digitale Wirtschaft fordert, dass es für die sogenannten Spezialdienste „nur wenige, restriktiv gehandhabte Ausnahmen geben darf“, denn „eine diskriminierungsfreie Durchleitung der Daten ist wirtschaftlich hoch relevant und für etablierte Unternehmen sowie Start-ups unverzichtbar“. Generell fehle es in Deutschland wie in vielen weiteren EU-Ländern an Übertragungskapazität für den Transport von Daten. Das von der Regierung beschlossene Programm zum Ausbau des Glasfaserkabelnetzes sei „in keiner Weise“ ausreichend. „Dabei hängt von diesen Investitionen ab, wie innovationsfähig Deutschland in Zukunft sein wird.“
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