"Kiron University": Die Online-Universität für Flüchtlinge
Die Idee entstand im vergangenen Jahr am Berliner Oranienplatz, dort arbeitete Markus Kreßler mit Flüchtlingen. Er sah, wie sehr sie die erzwungene Untätigkeit belastete - und gründete eine Online-Universität für sie. Die Reaktion der deutschen Hochschulen darauf überraschte ihn.
Der freundliche Mann, der an der Eingangstür zur Potsdamer Straße wartet, wirkt jünger und kleiner, als man ihn von den Bildern kennt, die in den vergangenen Wochen in zahlreichen Medien zu sehen waren. Markus Kreßler hat in diesen schwierigen Zeiten viel Aufsehen erregt mit der Gründung der Kiron University, einer Online-Hochschule für Flüchtlinge. Aus einer Idee wurde ein Vollzeitjob. "Die letzten Monate waren sehr zeitintensiv", erzählt Kreßler. Der 25-Jährige war viel unterwegs: An Hochschulen in ganz Deutschland und mehreren europäischen Ländern präsentierte er das Projekt. "Der Semesterbeginn des ersten Jahrgangs hat noch mal viel zusätzliches Interesse geweckt", erzählt der Psychologiestudent, der zusammen mit Mitgründer Vincent Zimmer schon im Sommer 2014 die Idee für das Projekt hatte. Unter den damaligen "Besetzern" des Oranienplatzes lernten sie als freiwillige Helfer viele der jungen Migranten näher kennen.
Neben der schwierigen asylrechtlichen Situation war es vor allem die erzwungene Untätigkeit, über die die Menschen klagten. "Viele junge Migranten sind bestens ausgebildet, bekommen aber ihre Abschlüsse in Deutschland nicht anerkannt, oder sie können wegen der Flucht die notwendigen Papiere nicht auftreiben. Und wenn, dann erst nach ewigen Wartefristen. Der Zugang zum Studium bleibt ihnen deshalb verwehrt", erklärt Kreßler.
Oben in der Potsdamer Straße sitzt das Freiwilligenteam um den Tisch, das sich um die Organisation der Kiron University kümmert. Alles läuft hochprofessionell: IT-Fachleute, Pädagogen, Campaigner, viele noch Studenten, arbeiten am Projekt mit – ehrenamtlich. Gerade ist das Team ins "Migration Hub" gezogen, ein offenes Workspace der neugegründeten Kiron Ventures. Dieser soziale Inkubator soll zukünftig Projekte zum Thema Migration fördern und den Migranten helfen, Start-ups zu gründen.
"Die Warteschleife ist Verschwendung von Talent"
Vor allem das jahrelange Warten auf Anerkennung zermürbe die Migranten, erzählt Kreßler, der im Camp am Oranienplatz psychosoziale Betreuung leistete: "Viele geben irgendwann auf. Das Leben in der Warteschleife ist nicht nur unmenschlich, sondern auch eine Verschwendung von Talent. Die meisten der Migranten sind hochmotiviert, sie wollen keine Almosen und ihr Geld selbst verdienen", sagt Kreßler. Die Zulassung zur Kiron University ist unbeschränkt, jeder Flüchtling kann sich bewerben. Die Studenten haben dann zwei Jahre Zeit, Papiere nachzureichen oder entsprechende Qualifikationen für den Abschluss zu erwerben, der später an einer staatlichen Hochschule erfolgt.
Die größte Überraschung für die Kiron-Gründer sei es gewesen, wie schnell und unbürokratisch viele Hochschulen reagierten: "Fast alle Unis kamen direkt auf uns zu", sagt Kreßler. 20 Partner-Hochschulen sind nun im ersten Semester beteiligt, darunter auch die Leuphana Universität in Lüneburg, das Hasso-Plattner-Institut in Potsdam, die RWTH Aachen oder die Macromedia Hochschule in Berlin, die auch Räume auf dem Campus zur Verfügung stellt. Internationale Unis wie Harvard, Stanford oder das MIT in Cambridge gewähren Kiron-Studenten freien Zugang zu ihren Online-Veranstaltungen.
Seit Oktober gibt es fünf Studiengänge
Gerade einmal 400 Euro kostet ein Onlinestudienplatz bei Kiron pro Semester, "rund drei Prozent eines normalen Studienplatzes", wie Kreßler betont. Per Crowdfunding wurde mehr als eine halbe Million Euro eingesammelt, die ersten 1000 Kandidaten konnten so im Oktober 2015 in fünf Studiengängen beginnen: Ingenieurwissenschaften, Architektur, Wirtschaftswissenschaften, Computerwissenschaften und Intercultural Studies stehen auf dem Lehrplan, Lehrsprache ist Englisch.
Für die kommenden Semester wird dauerhaft Geld auf Betterplace.org gesammelt. Kreßler schwebt für die Zukunft eine Mischfinanzierung aus Privat- und Firmenstipendien vor, langfristig sollen aber auch staatliche Institutionen in die Verantwortung genommen werden: "Schließlich ist Bildung ein wichtiger Teil der sozialen Integration." Nicht nur die Hochschulen sind daran interessiert, die Talente der Migranten zu fördern, auch die deutsche Wirtschaft hat die Kiron-Idee überzeugt: Die Bertelsmann Stiftung und die BMW Stiftung Herbert Quandt haben im Herbst größere Summen zugesagt, um Stipendien zu finanzieren. Auch viele mittelständische Firmen sind bereits mit im Boot.
kiron.university
Dieses Stück erschien zuerst im Wirtschaftsmagazin "Köpfe" aus dem Tagesspiegel-Verlag, das Sie hier bekommen können: Tagesspiegel Köpfe bestellen