Energiemarkt in der Coronakrise: „Die niedrigen Öl- und Gaspreise erfüllen uns mit Sorge“
Die Vorstandschefin der Vattenfall Wärme Berlin, Tanja Wielgoß, erklärt im Interview, wie ein neues Gasheizkraftwerk in Berlin zum Klimaschutz passt.
Frau Wielgoß, Sie haben vergangene Woche ein großes, neues Gasheizkraftwerk in Berlin-Marzahn in Betrieb genommen. Wie war die Einweihung in Coronazeiten?
Wir haben tatsächlich lange überlegt, ob wir den Termin verschieben. Aber wir sind stolz auf das Heizkraftwerk und darauf, dass wir die Arbeiten trotz der Herausforderungen gerade in den letzten Monaten zu einem so guten Ende geführt haben. Der Klimawandel macht auch keine Coronapause. Und ich hatte den Eindruck, dass die wenigen, die kommen durften – es war ja gleichzeitig ein digitaler und ein Vor-Ort-Event – großen Spaß hatten, mal wieder „rauszukommen“. Und das umso mehr für ein Klimaschutz-Thema. Die Vizepräsidentin des deutschen Bundestags, Petra Pau, hat ihren Ampelmann vor gut drei Jahren ins Fundament des Kraftwerks gelegt, damit er uns allen Glück bringt. Sie brachte ihre Freude deutlich zum Ausdruck.
Passen neue fossile Kraftwerke zum langfristigen Klimaschutz?
Ja, dieses Heizkraftwerk schon. Aus zwei Gründen: Erstens ist der Wirkungsgrad mit über 90 Prozent enorm, wir holen das Maximum aus dem fossilen Brennstoff Erdgas heraus – das ist der Charme der Sektorkopplung mit der gleichzeitigen Produktion von Strom und Wärme. Zweitens ist das Kraftwerk voll auf Flexibilität ausgelegt. Wir können es von einer Wärmeleistung von 230 Megawatt und einer elektrischen Leistung von 260 MW auf extrem niedrige Teillasten herunterfahren. Und wir können das Kraftwerk dank der Luftkühlung auch mal nur für die Stromerzeugung anfahren, wenn der Bedarf hoch ist. Das ist eine Besonderheit. Stichwort Klimaschutz: Unsere Vereinbarung mit dem Land Berlin, die Emissionen im Vergleich zu 1990 bis 2020 zu halbieren, haben wir übererfüllt.
Vattenfall strebt an, innerhalb einer Generation, also bis zu den 40er-Jahren, völlig CO2-neutral arbeiten zu können. Kraftwerke werden aber für drei, vier Jahrzehnte gebaut. Nochmal: Wie passt das zusammen?
Das Kraftwerk ist Wasserstoff-ready, das heißt, wir können es grundsätzlich auf Wasserstoff statt Gas umrüsten. Die Investitionen wären im Vergleich zu den bisherigen Baukosten wahrscheinlich verkraftbar. Und unser Partner Siemens ist technisch durchaus in der Lage, hier zu liefern. Mit den nötigen Investitionen könnten wir dann gerechnet am Volumen bis zu 30 Prozent Wasserstoff verbrennen. Wir sind allerdings in der Welt noch nicht so weit. Kein Kunde ist bereit, für diese Technik und vor allem für den Wasserstoff mehr und zwar sehr viel mehr zu bezahlen – egal ob für Strom oder Wärme.
Was ist notwendig, um Wasserstoff zum Durchbruch zu verhelfen?
Für Fortschritte im Bereich Wasserstoff braucht es Engagement seitens der Politik. Zusammen mit dem Land Berlin, der Technischen Universität und Siemens könnten wir trotz der aktuellen Rahmenbedingungen erste Schritte gehen, um in der Hauptstadt eine Erprobungsanlage für die mögliche Entwicklung der Zukunft zu installieren. Und auch um herauszufinden, wie viel Prozent Wasserstoff wirklich möglich wären. Ein solches Projekt braucht dann seine Zeit. Das ist aber verschmerzbar – auch der Wasserstoff wird in den nötigen Mengen nicht morgen zur Verfügung stehen. Die Bundesregierung arbeitet ja an einer langfristigen Strategie, die sowohl die Herstellung in Deutschland als auch den Import großer Mengen einleiten soll – und hat mit dem Entschluss zum Konjunkturpaket nun den Startschuss gegeben. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir in diesem Bereich vorwärts kommen, aber es wird noch viele Jahre in Anspruch nehmen.
Im Sommer wird kaum Wärme nachgefragt. Wir das Kraftwerk dann überhaupt laufen?
Im Verbund mit dem Heizkraftwerk Klingenberg bildet Marzahn das Rückgrat der Wärmeversorgung im Ostteil Berlins mit insgesamt 450.000 Haushalten. Die wenigsten duschen kalt, selbst wenn es draußen richtig warm ist. Aber Sie haben recht: Der Bedarf an Wärme ist im Sommer viel niedriger als im Winter, wenn die Heizungen laufen. Ob wir dann Elektrizität produzieren, hängt ganz von den Marktbedingungen ab, von den Erdgaspreisen, den CO2-Emissionspreisen und natürlich dem Strompreis. Strom war früher ein Produkt, das wirtschaftlich Spaß gemacht hat. Das ist heute deutlich weniger der Fall. In der Stromerzeugung stehen wir bereit, wenn Wind und Sonne nicht im ausreichenden Maß liefern können. Haupteinnahmequelle für uns ist aber derzeit eindeutig die Wärmeerzeugung.
Die geht aber auch zurück – einerseits etwas durch den Klimawandel, andererseits auch, wenn wie geplant die energetische Sanierung schnelle Fortschritte macht.
Das stimmt – und Sanierung wünschen wir uns sehr, auch wenn es vielleicht aus dem Mund einer Energieversorgerin komisch klingt: Wenn der einzelne Haushalt weniger Energie verbraucht, können wir zusätzliche Kunden gewinnen. Stadtwärme ist heute und noch viel mehr mittel- und langfristig ökologisch und ökonomisch attraktiv. In den letzten Jahren haben wir durchschnittlich 25.000 Wohneinheiten pro Jahr neu angeschlossen. Wir wollen auch weiterhin in dieser Größenordnung neue Kunden in Berlin gewinnen. Umgekehrt müssen wir tatsächlich in manchen Gebieten sogar schon Kunden ablehnen. Denn immer mehr erkennen, gerade Wohnungsbaugesellschaften, dass wir für sie eine gute Partnerin sind: Schon jetzt ist der CO2-Fußabdruck unserer Kunden sehr viel geringer als der der Konkurrenz. Als Faustformel gilt eine Tonne pro Haushalt und Jahr weniger CO2.
Apropos Einnahmequellen: Wie erwähnt sind die Gaspreise, aber auch die Ölpreise sehr niedrig. Die Verbraucher profitieren davon, die Kosten haben sich zum Teil mehr als halbiert. Sinken auch die Fernwärmetarife entsprechend?
Stadtwärme funktioniert ökonomisch betrachtet anders. Wir haben hier ein System vom Kraftwerk bis zu den Leitungen und der Wartung, das insgesamt sehr effizient und nahezu ohne Ausfälle beim Kunden arbeitet. Es lebt wirtschaftlich davon, dass wir zwar in der Hauptsache Wärme produzieren, aber auch Strom, wovon unsere Kunden dann profitieren durch niedrigere Preise. Da aktuell zwar der Gaspreis niedrig ist, allerdings gleichzeitig auch der Strompreis, gleichen sich die Effekte nahezu wieder aus.
Bekommen Sie dadurch sogar ein Problem mit der Konkurrenzfähigkeit?
Die niedrigen Gas- und Ölpreise erfüllen uns durchaus mit Sorge. Natürlich machen diese die Öl- und Gaskessel-Versorgung aktuell deutlich billiger. Das – gepaart mit der Wärmelieferverordnung, der WLV – bedeutet deutliche Wettbewerbsnachteile. Denn die WLV zwingt bei Neuakquisitionen dazu, Vergangenheitsvergleiche anzustellen. Dies bedeutet, dass wir in den nächsten zwei Jahren weiterhin deutliche Wettbewerbsnachteile haben. Und nicht nur das: die Bürgerinnen und Bürger treffen nun Entscheidungen für die Zukunft auf der Basis einer nahezu irrelevanten Vergangenheit und Gegenwart. Das kann fatale Folgen haben. Denn wenn die Preise wieder steigen und wenn 2021 endlich eine CO2-Bepreisung für Öl und Gas anfällt, wird sich die Welt verändern. Und das relativ schnell, weil ja auch der CO2-Preis relativ schnell steigt. Schon bei einem CO2-Preis von zehn Euro wird unsere Stadtwärme günstiger im Vergleich zum Öl und das berücksichtigt noch nicht, dass nahezu keine Investitionskosten in der Zukunft mehr anstehen. Die sukzessive weitere CO2-Reduzierung ist im Produkt quasi als Zusatzgeschenk mit enthalten.
Wie wirkt sich das auf Kaufentscheidungen aus?
In Berlin haben noch 20 Prozent der Wohnungen Ölkessel – im Stadtteil Schöneberg sogar 50 Prozent. Ich befürchte, dass wir hier und in Deutschland selbst im Jahr 2020 noch Entscheidungen für neue Ölkessel sehen werden.
Mit den Kraftwerken an den West-Berliner Standorten Reuter West und Moabit haben Sie noch große Kohleblöcke am Netz mit einer Brutto-Leistung von 750 Megawatt allein in Reuter West. Was haben Sie an dem Standort vor?
Wir haben mit dem Land Berlin nahezu alle Optionen geprüft, die überhaupt denkbar sind für den Ersatz von Steinkohle: von industrieller Abwärme über Wärmepumpen, Solar- und Geothermie, Biomasse bis hin zu Power-to-Heat und KWK-Anlagen wie in Marzahn. Beim Ausstieg aus der Steinkohle in Westberlin haben wir die Herausforderung, dass wir anders als zum Beispiel das Ruhrgebiet oder Hamburg über sehr wenig industrielle Abwärme verfügen. Und anders als in München sind die geologischen Bedingungen für Geothermie nicht vorteilhaft. Wo wir Chancen sehen, ist in der Nutzung von regenerativem Strom aus dem Umland, um mit diesem unser Wasser aufzuheizen. Wir setzen auf diese Lösung in Kombination mit Biomasse und der Nutzung der Abwärmepotentiale bei den beiden großen öffentlichen Ent- und Versorgern: Berliner Stadtreinigung und Berliner Wasserbetriebe. Und wir stocken das, was uns dann noch an Leistung fehlt, mit Kraft-Wärme-Kopplung auf. Am Ende wollen wir 40 Prozent der bisher mit Steinkohle produzierten Energie regenerativ oder durch Abwärme produzieren und 60 Prozent über eine KWK-Anlage.
Apropos aufheizen: Sie setzen in West-Berlin ja auch auf Power-to-Heat und haben voriges Jahr eine große Anlage in Betrieb genommen. Warum nicht auch in Marzahn?
Wir bauen ganz bewusst auf einen möglichst breiten Mix an Techniken. Das schützt uns ökonomisch betrachtet vor Unwägbarkeiten – auch vor regulatorischen. Unsere Power-to-Heat-Anlage mit 120 Megawatt Leistung ist übrigens die Größte ihrer Art in Europa. Sie leidet jedoch darunter, dass alle Umlagen und Abgaben fällig werden. Wir zahlen die gleichen Steuern und Abgaben wie ein Endverbraucher. Das ergibt aus unserer Sicht einfach keinen Sinn: Denn die Idee unserer Power-to-Heat-Anlage ist ja gerade, Strom dann abzunehmen, wenn Wind und Sonne so viel produzieren, dass eigentlich abgeregelt werden müsste. Das aktuelle System schafft also keine Anreize für die Nutzung von regenerativen Energien, sondern eher das Gegenteil. Power-to-Heat würde es ermöglichen, die Kapazitäten der erneuerbaren Energien noch besser auszunutzen. Wenn, wie in Schleswig-Holstein bereits in Arbeit, fairere Rahmenbedingungen kommen, werden wir weiter in PtH auch an anderen Standorten investieren.