Ärztepräsident Klaus Reinhardt im Interview: "Die Lieferengpässe bei Impfstoffen beunruhigen mich sehr"
Lange Wartelisten und verunsicherte Patienten: Die Arzneiversorgung entspreche nicht dem Standard eines modernen Gesundheitssystems, findet der Ärztepräsident.
Herr Reinhardt, die Infektionszahlen steigen beängstigend – und der Herbst hat noch gar nicht begonnen. Ist das Land und sind die Ärzte für eine zweite Coronawelle gewappnet?
Zumindest besser als im Frühjahr. Ich bin mir zum Beispiel sicher, dass wir inzwischen über genügend Schutzausrüstung verfügen. Wir haben auch deutlich mehr Intensivkapazitäten und -betten. Die Kliniken haben Ablaufpläne für den Umgang mit Coronainfizierten entwickelt, ebenso die Arztpraxen. Allerdings dürfte es für uns in einer Hinsicht deutlich schwieriger werden: Im Herbst und Winter kommt noch die übliche Erkältungswelle dazu. Wir müssen dann auseinanderhalten, ob es sich um gewöhnliche Atemwegsinfekte oder um Covid-19-Infektionen handelt. Und die Zahl der Patienten in den Praxen mit solchen Symptomen wird stark steigen.
Worauf wäre aus Ihrer Sicht in den Arztpraxen dringend zu achten?
Ich rate zur Trennung der Sprechstundenzeiten für Atemwegserkrankte und für andere Patienten. Dazwischen sollte Pause gemacht und gründlich gelüftet werden. Aus meiner Sicht sollten Reihentestungen und Screenings auch systematisch aus den Praxen herausgehalten und auf spezielle Testzentren konzentriert werden. Und ich bin sehr dafür, dass wir von den PCR-Tests wegkommen, die sehr lange dauern und bei denen die Patienten später nochmal aufwändig kontaktiert werden müssen. Es wäre klüger, auf Schnelltests umzusteigen, die zwar vielleicht nicht ganz so exakt, aber in der Handhabung deutlich praktikabler sind.
Die Bundeskanzlerin sagt, man müsse die Zügel anziehen, um nicht in ein Desaster zu laufen. Sehen Sie das auch so – und wo genau wären die Ansatzpunkte?
Nach meinem persönlichen Eindruck, etwa bei Zugreisen, funktioniert das Maskentragen einigermaßen. Manchmal hängen sie zwar unter der Nase, und den hygienischen Zustand manches Atemschutzes lasse ich auch mal außen vor. Sehr wenig Disziplin erlebe ich aber beim gebotenen Abstandhalten in der Öffentlichkeit. Wie nahe man sich auf der Rolltreppe kommt, wie man in einen Zug ein- und aussteigt, ist wichtig für die Eindämmung der Pandemie. Ich habe mich lange dafür ausgesprochen, hier an die Vernunft der Menschen zu appellieren. Mittlerweile finde ich, dass wir da schärfer vorgehen und auch sanktionieren müssen.
Es gibt auch die Übervorsichtigen und Ängstlichen…
Ja, und denen darf man, wie ich finde, nicht noch mehr Angst machen, das stünde in keinem Verhältnis zur aktuell verifizierbaren Gefahr. Hier gilt es also eine Balance zu halten. Wir dürfen nicht übermäßig beunruhigen, müssen den Menschen aber sagen: Erinnert Euch an das Frühjahr, als wir den Lockdown hatten. Vergleichbares wollen wir nicht noch einmal.
Was halten Sie denn von der Expertenforderung, nicht jedem Infizierten hinterherzutelefonieren, sondern sich bei der Corona-Eindämmung vor allem auf sogenannte Superspreader zu konzentrieren?
Ich halte das für einen guten Ansatz, der aber nicht ganz einfach umzusetzen ist. Superspreader muss man erst einmal identifizieren und aufspüren. Aber es macht Sinn, solche Leute mit den jeweiligen Clustern besonders schnell zu isolieren und sich nicht anderweitig zu verzetteln. Wir brauchen eine Art Flexible Response, eine Konzentration unserer Energien und Ressourcen auf wesentliche neuralgische Situationen.
Apropos Ressourcen: Alle warten darauf, dass die Regierung endlich ihr Versprechen einlöst, den öffentlichen Gesundheitsdienst besser auszustatten. Was wäre hier nötig?
Sehr viel, aus unserer Sicht. Das beginnt mit personeller Aufstockung. Wir brauchen in den Gesundheitsämtern mehr Beschäftigte, und zwar mit Fachverstand und entsprechender Aus- und Weiterbildung. Kurzfristig lässt sich dieses Problem nicht lösen, weil solches Personal derzeit kaum zur Verfügung steht. Deshalb müssen wir eine Strategie entwickeln, ein Konzertierte Aktion etwa zur Aus- und Weiterbildung, damit es wenigstens mittelfristig Verbesserungen gibt.
Im Gesundheitsamt zu arbeiten ist für angehende Mediziner nicht gerade ein Traumjob. Wie lässt sich das ändern?
Erstens indem man Menschen, die in Gesundheitsämtern arbeiten, ein vergleichbares Gehalt anbietet wie Klinik-Beschäftigten. Und zweitens auch durch mehr ideelle Wertschätzung. Es gilt, die Bedeutung ihrer Arbeit stärker als bisher herauszustellen. Ob Erhalt der öffentlichen Gesundheit, Seuchenbekämpfung oder Hygiene: Für unser normales Leben ist das enorm wichtig. Offenbar haben wir uns aber daran gewöhnt, dass das alles funktioniert. Dadurch werden der Sinn und die Bedeutung des öffentlichen Gesundheitsdienstes kaum noch gewürdigt. Das muss sich ändern.
Mancherorts kommunizieren Gesundheitsämter noch mit Faxgeräten…
Ja leider, und deshalb fordern wir seit Langem moderne Kommunikationsstrukturen und eine digitale Vernetzung. Nur so werden wichtige Daten, zum Beispiel zum Infektionsgeschehen, schnell und umfassend bundesweit verfügbar. Diese Strukturen brauchen wir jetzt und nicht erst im Jahr 2022. Außerdem finde ich es problematisch, dass die Arbeit regional so unterschiedlich organisiert ist. In manchen Bundesländern sind den Mitarbeitern vor Ort Landesgesundheitsämter übergeordnet. In anderen, wie Nordrhein-Westfalen, ist alles nur bei den Kommunen angesiedelt. Bei aller Sympathie für die Berücksichtigung lokaler Bedingungen: So viel Subsidiarität ist nicht zielführend. Der öffentliche Gesundheitsdienst braucht auch integrative Klammern, um effektiv zu sein.
Und wohl auch einen Blick über den nationalen Tellerrand hinaus. Was erhoffen Sie sich von der geplanten Stärkung des Europäischen Zentrums für Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC)?
Ich erwarte mir davon die Möglichkeit, uns nötigenfalls schnell über ein epidemisches Geschehen innerhalb Europas austauschen zu können. Ein Beispiel wäre das grenzüberschreitende Nachverfolgen von Erkrankten in Zeiten von Pandemien. Oder das Aufspüren von Hot Spots und die gegenseitige Information darüber. Es geht auch um gemeinsame Strategien, etwa in Grenzgebieten. Gefährliche Viren machen bekanntlich nicht an Schildern und Schranken Halt. Sie interessieren sich auch nicht dafür, welche Sprache wo gesprochen wird.
Grenzüberschreitend ist auch der Arzneimittelmarkt. Durch die Coronakrise haben sich Lieferengpässe für wichtige Medikamente zeitweise drastisch verschärft. Wie ist die Situation im Moment?
Aktuell meldet das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte 332 Humanarzneimittel mit Lieferengpässen, das ist eine ganze Menge. Durch die Pandemie mit ihren Handelsbeschränkungen hat dieses Problem natürlich extrem zugenommen. Und im Frühjahr gab es Situationen, in denen wir Sorge hatten, dass auch besonders wichtige Substanzen knapp werden könnten. Ich rede hier etwa von Propofol, das für eine künstliche Beatmung notwendig ist. Oder von Adrenalin, das dringend in der Intensivmedizin benötigt wird, von Reserveantibiotika, die wir zwar selten, aber in kritischen Situationen unbedingt benötigen. Wenn uns diese Mittel ausgehen, wäre das eine wirklich hochgefährliche Situation.
Die Koalition will Anreize für die Pharmaindustrie schaffen, um die Produktion wichtiger Arzneimittel teilweise wieder zurück nach Europa zu holen. Ist das erfolgversprechend?
Es ist wichtig und sinnvoll, die Produktion von Wirkstoffen und Arzneimitteln zumindest teilweise nach Europa zurückzuholen. Gelingen wird uns das aber wohl nur durch Anreizsysteme. Man könnte in Europa hergestellte Produkte etwa bei Rabattverträgen bevorzugen. Oder solche Verträge nur noch zulassen, wenn mindestens eines der Präparate aus dem europäischen Raum kommt. Man könnte auch die Hersteller verpflichten, lieferfähig zu bleiben, sich also zusätzlich vor Ort zu bevorraten. Solche Vorgehensweisen könnten auch europäisch konzertiert erfolgen. Das ist ein wichtiges Thema für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft.
Bei welchen Produkten würden Sie sagen: Hier können wir uns nicht von China oder Indien abhängig machen, da muss die Herstellung unbedingt zurückverlagert werden?
Bei Antibiotika, bei wichtigen Schmerzmitteln, bei allem, was in der Notfallmedizin unabdingbar ist. Das gehört wieder hierher. Es gibt meines Wissens kein einziges Antibiotikum mehr, das in Deutschland hergestellt wird. Und wir brauchen auch eine gewisse Reserve an Materialien und Schutzkleidung.
Wenn die Produktion wieder stärker nach Europa zurückverlagert wird, hätte das auch steigende Preise für Arzneimittel zur Folge. Ein Problem?
Wenn Arzneimittel nach unseren Qualitäts- und Umweltstandards produziert werden, werden sie natürlich teurer. Dazu kommt die Bezahlung der Mitarbeiter nach europäischen Lohnniveaus. Ich mag die Klage darüber aber nicht mehr hören. Europäische Versicherte und Patienten können das leisten, und unsere Sicherheit muss uns das auch wert sein. Hier gibt es übrigens noch einen anderen Aspekt: In Ländern wie Indien findet die Produktion von Arzneimitteln unter zum Teil skandalösen Bedingungen statt. Es gibt Regionen um die Werke herum, die total verseucht sind mit multiresistenten Keimen, gegen die wir nichts mehr ausrichten können. Die werden irgendwann durch Reisende auch zu uns gelangen. Und das könnte uns dann noch vor weit größere Probleme stellen als das Coronavirus.
Wie gehen Patienten damit um, wenn ihre Medikamente nicht verfügbar sind? Und wie viel Beratungszeit entfällt für die Ärzte auf dieses unangenehme Thema?
Das Problem begann mit den Rabattverträgen. Viele Patienten sind irritiert, wenn sie aus finanziellen Gründen andere Arzneimittel verschrieben bekommen als gewohnte. Sie fragen den Ärzten dann Löcher in den Bauch, der Beratungsaufwand ist hoch. Wenn jetzt bestimmte Wirkstoffe gar nicht verfügbar sind, ist das aber noch eine ganz andere Dimension. Und wenn Patienten beispielsweise wegen Lieferengpässen vom Blutdruckmittel Valsartan auf Candesartan umgestellt werden müssen, ist das auch nicht banal. Da kommt eine Unwucht in die Behandlung. Dass das alles sehr verunsichert, ist nachvollziehbar. Es entspricht auch nicht dem Standard eines modernen Gesundheitssystems im Jahr 2020.
Die Lieferengpässe betreffen auch Impfstoffe. Die für ältere Menschen empfohlene Pneumokokken-Impfung etwa ist dadurch momentan nicht möglich. Dabei wäre der Schutz vor Lungenentzündungen in der Corona-Pandemie vielleicht wichtiger als sonst. Beunruhigen Sie solche Engpässe?
Die Lieferengpässe bei Impfstoffen beunruhigen mich sehr. Selbst mir als Arzt geht es da nicht anders: Ich bin jetzt 60, sollte mich nach den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission gegen Pneumokokken impfen lassen und habe keinen Impfstoff bekommen. Die Nachfrage ist aufgrund der Pandemie extrem gestiegen. Und ich bin mir sicher, dass auch die Bereitschaft für Influenza-Impfungen im Herbst erheblich zunehmen wird.
Auch andere empfohlene Impfungen werden durch Lieferengpässe blockiert. Eine Hausärztin berichtet von 200 Patienten, die bei ihr auf der Warteliste für eine Gürtelrose-Impfung stehen…
Ich kann das bestätigen, auch in meiner Praxis gibt es für diese Impfung eine lange Warteliste – und zwar unabhängig von Corona. Der Engpass liegt daran, dass der Impfstoff relativ neu ist und sehr gut angenommen wurde. Das heißt aber auch, dass die Produktionskapazitäten zu knapp sind, um darauf reagieren zu können. Wir sind abhängig von irgendwo in der Welt produzierten Substanzen.
Und die Ärzte in den Praxen können nicht mehr tun, als zu priorisieren?
Ja, sie müssen entscheiden, welche Patienten die Impfung am nötigsten haben. Ich finde das eine abstruse Situation. Wir haben eine Expertenkommission, die bestimmte Impfungen ausdrücklich empfiehlt. Und wir versuchen Impfgegner von der Notwendigkeit von Impfungen zu überzeugen. Gleichzeitig sind wir aber gar nicht in der Lage, all diejenigen zu impfen, die das wollen.
Dr. Klaus Reinhardt ist seit gut einem Jahr Präsident der Bundesärztekammer, er löste dort im Mai 2019 seinen langjährigen Vorgänger Frank Ulrich Montgomery ab. Der 60-Jährige ist Allgemeinmediziner, er betreibt seit 27 Jahren eine Praxis in Bielefeld und steht seit 2011 auch an der Spitze des Hartmannbundes. Reinhardt hat neben Medizin auch Jura und Philosophie studiert, ist verheiratet und hat vier Kinder.