Digitalhauptstadt Berlin: Die große Vision für die Digitalisierung Deutschlands fehlt
Die Gründerszene vermisst den großen Wurf in der Digitalpolitik. Trotzdem könnte Berlin von den neuen Plänen der großen Koalition profitieren.
Noch in den Sondierungsgesprächen war von Start-ups keine Rede, zumindest im 28 Seiten umfassenden Papier standen sie mit keinem Wort – wie aber soll ohne sie bitte die „Gigabit-Gesellschaft“ geformt werden, die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vorschwebt? Das ist dann offensichtlich auch den Unionsparteien und der SPD klar geworden. Im Entwurf des Koalitionsvertrags sind Start-ups nun mehrfach erwähnt, insgesamt gibt es 25 Maßnahmen, von denen die jungen Tech-Unternehmen direkt profitieren sollen – und damit auch die Digitalhauptstadt Berlin. Doch: Die große Vision für die Digitalisierung Deutschlands fehlt weiterhin. Entsprechend geteilt sind die Reaktionen aus der Berliner Gründerszene.
„Wir brauchen ein höheres Ambitionslevel, verbunden mit einer schlüssigen Strategie, um zur internationalen Spitzenklasse zu gehören“, fordert Dirk Graber, Gründer und Geschäftsführer von Europas erfolgreichstem Online-Optiker Mister Spex. So seien beispielsweise die Leistungen, die für den Ausbau der digitalen Infrastruktur oder ein Bürgerportal genannt werden, „viel zu gering“.
Zehn bis zwölf Milliarden Euro will die mögliche neue Regierung für einen flächendeckenden Breitbandausbau bis 2025 ausgeben. Die Finanzierung ist jedoch alles andere als geklärt, denn das Geld soll aus der Versteigerung der Lizenzen für die nächste Mobilfunkgeneration 5G stammen. Die Telekommunikationsbranche sieht es jedoch nicht ein, für die Lizenzen Milliarden ausgeben und dazu den Aufbau einer lückenlosen Infrastruktur aus eigener Tasche zahlen zu müssen.
"Digitalisierung nicht verstanden"
Wer zudem als Ziel für E-Health ein Verbot für den Versandhandel mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln formuliert und dies als Grundlage für eine flächendeckende Gesundheitsversorgung sieht, „der hat Digitalisierung nicht verstanden“, kritisiert Graber.
Auch Catharina van Delden, Gründerin des IT-Start-ups Innosabi und Mitglied im Präsidium des IT-Branchenverbands Bitkom fehlt „eine übergeordnete Vision“. Sie klagt: „Während wir uns in Deutschland im Klein-Klein der Einzelmaßnahmen verlieren, ruft unser Nachbarland Frankreich die Start-up-Nation aus.“
Zumal schon die Vorgängerregierung viel versprochen, aber wenig umgesetzt hat: Gerade einmal zehn der 28 Maßnahmen zur Start-up-Förderung wurden vollständig realisiert, also noch nicht einmal die Hälfte. So wurde bereits 2013 angekündigt, dass eine Gründerzeit ähnlich der Familienpflegezeit eingeführt werden soll, um Gründungen aus der Beschäftigung zu erleichtern. Auch ein sogenannter One-Stop-Shop für Unternehmensgründungen wurde angekündigt, um Antrags-, Genehmigungs- und Besteuerungsverfahren zu vereinfachen und eine unbürokratische Gründung zu ermöglichen – ohne dass es zu konkreten Umsetzungsschritten kam.
„Diese Versprechen finden sich teilweise fast wortgleich auch im neuen Koalitionsvertrag wieder“, sagt van Delden. Andere wichtige Pläne wurden gar komplett fallengelassen. „Es kommt jetzt darauf an, dass Start-up-Politik nicht nur aufgeschrieben, sondern wirklich gemacht wird“, fordert sie.
Die Gründer vor allem in den ersten Jahren zu unterstützen, wie beispielsweise durch die Befreiung von der monatlichen Voranmeldung der Umsatzsteuer und die Digitalisierung der Verwaltung durch ein zentrales digitales Portal für Unternehmen und ein behördenübergreifendes Datenmanagement, seien vielversprechende Ziele. Dennoch bleibe der Vertragsentwurf oft vage. So werden beispielsweise Anpassungen im Insolvenzrecht „geprüft“, ebenso die Einführung steuerlicher Anreize zur Mobilisierung von Wagniskapital. Ein klarer Wille hört sich anders an.
Wichtige Vorhaben für mehr Wagniskapital
Dabei könnte gerade Berlin von einer solchen Mobilisierung „überdurchschnittlich profitieren“, sagt Jan Eder, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Berlin. Schon 2017 entfielen von den 4,3 Milliarden Euro, die in deutsche Start-ups investiert wurden, 70 Prozent auf die Tech-Unternehmen aus der Hauptstadt. Die geplante Förderung von Wagniskapital ist ein „wichtiger Schwerpunkt“, sagt auch Ralf Dommermuth, Vorsitzender der Digitalstiftung Internet Economy Foundation und Gründer von United Internet. So soll ein neuer großer nationaler Digitalfonds aufgelegt werden, der jedoch vor allem durch privates Kapital gespeist wird. Angedacht ist dabei, dass auch Versicherungen und Pensionskassen einzahlen.
„Um mit dem weltweiten Tempo der Digitalisierung Schritt zu halten ist ein solcher Vorstoß unabdingbar“, sagt Investor Christian Miele von e.ventures. Denn inzwischen sind zwar auch hohe zweistellige Millionenbeträge für deutsche Start-ups nicht ungewöhnlich, doch das Geld stammt meist aus den USA. „Nichtsdestotrotz hält sich die Euphorie so lange in Grenzen bis ganz konkrete Pläne vorliegen und die Start-up-Szene die Veränderungen auch tatsächlich wahrnimmt“, sagt Miele. Auch der Start-up-Verband drängt aufs Tempo. Denn bis ein solcher Fonds erst einmal aufgelegt ist und dann auch investiert, können schnell einige Jahre vergehen. Das zeigt sich auch am zweiten angekündigten Instrument, dem Tech Growth Fonds. Der war im Sommer 2016 schon von der Bundesregierung angekündigt worden. Und das im letzten Koalitionsvertrag versprochene Wagniskapitalgesetz gibt es bis heute nicht.
Auch der Aufbau flächendeckender Gigabitnetze bis 2025 im Festnetz und 5G-Mobilfunk markiert für Dommermuth „den richtigen Weg“. Insgesamt setze der Koalitionsvertrag wichtige Impulse, um die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Digitalisierung zu schaffen. Für eine „echte Digitalwende“ aber brauche Deutschland „nun klare politische Zuständigkeiten und eine ambitionierte Ausgestaltung der vereinbarten Vorhaben“.
Doch genau diese klare politische Zuständigkeit gibt es zum Erstaunen der meisten Beobachter weiter nicht. Im Wahlkampf war noch die große Frage, ob es ein eigenes Internetministerium geben wird oder „nur“ einen Staatsminister für Digitalpolitik im Kanzleramt. Letzterer war der Minimalkonsens, auch die Kanzlerin hatte so einen Koordinator favorisiert, und auch im Regierungsprogramm der CDU war der Staatsminister versprochen worden. „Digitalisierung ist Chefsache“, hieß es da schmissig.
„Die CSU nimmt die gesamte Republik in analoge Geiselhaft“
Nun aber pflegt der Vertragsentwurf den Status quo: Das Verkehrsministerium ist weiter für die digitale Infrastruktur zuständig, die anderen Ressorts kümmern sich jeweils um ihre Digitalthemen, eine zentrale Koordination gibt es nicht. Eine Erklärung dafür bleiben die Beteiligten schuldig. Die CDU will sich erst dazu äußern, wenn die Kabinettsbesetzung offiziell ist. Doch in Berlin heißt es, dass der Hintergrund offenbar ein Machtkampf innerhalb der Union war: Die CSU wollte sich nicht in den Breitbandausbau reinreden lassen oder gar Zuständigkeiten abgeben. „Die CSU nimmt die gesamte Republik in analoge Geiselhaft“, schimpft Florian Nöll, Chef des Start-up-Verbandes.
Dabei hatte schon der bisherige Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) viel Ärger wegen des schleppenden Breitbandausbaus auf sich gezogen. „Das schnellste und intelligenteste Netz der Welt“, hatte Dobrindt versprochen. Doch die Ziele wurden nicht erreicht und selbst da, wo die Telekomanbieter inzwischen schnelle Internetanschlüsse verkaufen, kommt bei 88 Prozent der Nutzer maximal die Hälfte der versprochenen Datengeschwindigkeit an, ergab der jüngste Bericht der Bundesnetzagentur.
Zukunftsthemen unter die Räder gekommen
„Es ist bezeichnend für die Schwerpunktsetzung der neuen Regierung, dass es ein Heimatministerium geben wird, aber kein Digitalministerium“, sagt Jimmy Schulz (FDP), der im Bundestag den Ausschuss Digitale Agenda leiten wird. Der Kritik schließen sich auch Unternehmer an. „Es ist kein gutes Zeichen, dass es keine Top-Personalie für das Thema Digitalisierung gibt“, sagt Nikolas Samios, Chef und Gründer des Berliner Wagniskapitalgebers Cooperativa. Der Koalitionsvertrag verbreite daher keinen Aufbruch, viele in der Start-up-Szene seien „enttäuscht, dass die Zukunftsthemen so unter die Räder kommen“.
Christian Amsinck, Hauptgeschäftsführer des Unternehmervebands Berlin-Brandenburg, hält den Vertrag auch an vielen Stellen für „zu wenig ambitioniert“ im Hinblick auf Digitalisierung. Trotzdem könne vor allem die Hauptstadt profitieren, wenn die Pläne umgesetzt werden. Für Amsinck brauche es auch mehr Fortschritt und Tempo in der Verwaltung. Nun muss die künftige Regierung zeigen, dass sie bei der Umsetzung ihrer Versprechen mehr Geschwindigkeit an den Tag legt, als manche Behörden, denen sie damit Beine machen will.