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April 2018: Näherei in Sabhar nahe Dhaka in Bangladesch - unweit der 2013 eingestürzten Näherei in Rana Plaza. Hier nähen rund 2000 Arbeiterinnen und Arbeiter für Ketten wie C&A und Marks & Spencer.
© Kevin P. Hoffmann

Fünf Jahre nach "Rana Plaza": Die Einsturz-Katastrophe war ein Weckruf

Fünf Jahre nach dem Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza mit mehr als 1000 Toten setzt Bangladesch auf billige IT-Dienstleistungen. Auch da droht Ausbeutung

Eine Fabrik in Sabhar, einem Vorort der Megastadt Dhaka in Bangladesch: Der Blick durchs Fenster fällt auf einen Hof mit Palmen. Ventilatoren sorgen für Luftaustausch bei mehr als 30 Grad Außentemperatur. Im Gang stehen Topfpflanzen in Reihe. Zwar schauen die wenigsten der mehr als 2000 Frauen und Männer, die hier Kleidung für Ketten wie C&A oder Marks & Spencer nähen, ins Grüne. Aber in der Halle, die Bangladeschs Regierung vergangene Woche einigen Journalisten präsentierte, ist es hell und sauber, Fluchtwege sind gekennzeichnet. Trotz Akkordarbeit, ratternder Nähmaschinen und zischender Bügeleisen wirkt diese Fabrik fast wie ein Ruheraum – nach dem Anfahrtsweg über die Straßen von Dhaka, einer Stadt, die so staub-, stau- und lärmverseucht ist wie kaum eine andere der Welt.

Kein Vergleich jedenfalls mit den Zuständen, die in der achtgeschossigen Fabrik Rana Plaza geherrscht haben sollen, die vor fünf Jahren nur wenige Kilometer von diesem Ort eingestürzt war. Am 24. April 2013 wurden laut Abschlussbericht 1135 Menschen getötet, 2438 teils schwer verletzt. 200 Leichen konnte man nie identifizieren, die Angehörigen dieser Opfer wurden nicht entschädigt, wie Rechtsanwältin Sara Hossain kritisiert. Auch eine Gedenktafel gibt es dort bis heute nicht. „Das zeigt, welche Priorität die Regierung dem Thema beimisst“, sagt Hossain. Als Grund für den Einsturz gelten Baupfusch, ignorierte Warnungen vor Rissen im Beton nur Stunden vor dem Zusammensturz. Urteile gegen den Eigentümer des Gebäudes und den Fabrikbesitzer sind noch nicht gefällt.

Mindestlohn beträgt rund 55 Euro im Monat

Diese Katastrophe war ein Weckruf für die Arbeiterinnen und Arbeiter. Landesweit zogen noch Monate nach dem Ereignis bei einzelnen Demonstrationen bis zu 200 000 teils brandschatzend durch die Straßen, sie legten Fabriken lahm, forderten Aufklärung – und einen höheren Mindestlohn. Den bekamen sie: Er beträgt heute umgerechnet etwa 55 Euro im Monat. Alle fünf Jahre soll er erhöht werden, hat die Regierung jetzt versprochen. Im Dezember stehen Wahlen an.

Generikaproduktion einer Medikamentenfabrik des Square-Konzerns, eines der größten börsennotierten Unternehmen des Landes, nördlich von Dhaka. Die meisten Anlagen stammen aus Deutschland und Korea.
Generikaproduktion einer Medikamentenfabrik des Square-Konzerns, eines der größten börsennotierten Unternehmen des Landes, nördlich von Dhaka. Die meisten Anlagen stammen aus Deutschland und Korea.
© Kevin P. Hoffmann

Außenminister Abul Hassan Mahmud Ali sagt vor den ausländischen Gästen, dass sich in den fünf Jahren seit Rana Plaza „alles grundlegend verändert“ habe. Das ist wohl übertrieben, aber: „Die meisten Unternehmer in Bangladesch wissen, dass ihr Erfolg unmittelbar von der Frage abhängt, ob der Textilsektor als Ganzes sicherer und nachhaltiger wird“, sagt Jochen Weikert von der bundeseigenen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Deren Vorgängerorganisation GTZ hatte die Textilbranche schon seit Ende der 90er Jahre begleitet. Damals hätten die Textilfirmen im Schnitt nur 35 D-Mark (17,90 Euro) im Monat gezahlt. „Es gibt zwar immer noch zu viele Unternehmen, die sich verschließen, doch diese werden es schwer haben, im globalen Wettbewerb zu bestehen, und daher eher früher als später den Markt verlassen“, glaubt Weikert.

Investoren pochen auf Abkommen für gute Arbeitsbedingungen

Henrike Kulmann, Analystin bei Allianz Global Investors, erwartet, dass Bangladesch das sogenannte „Accord“-Abkommen um weitere drei Jahre verlängert. Es liegt derzeit vor dem Obersten Gericht in Dhaka auf Eis. „Accord“ habe mehr als 200 europäische Textilketten vereint und mehr als 650 Fabriken in Bangladesch dazu gebracht, ihre Sicherheitsbedingungen zu verbessern und mehr als 90 Prozent der beanstandeten Mängel zu beseitigen. Würde das Abkommen nicht verlängert, „könnten die Mode-Labels schnell aus der Mode kommen, sowohl bei Kundengruppen wie den Millennials, die sich enttäuscht von den Labels abwenden, die ihrem Markenversprechen nicht gerecht werden, als auch bei aktiven Investmentmanagern, die die Risiken in der Lieferkette dieser Unternehmen umfassend neu bewerten müssten“, droht die Analystin des Vermögensverwalters.

Straßenszene in Dhaka: Mehr als 14 Millionen Menschen leben im Großraum der Hauptstadt von Bangladesch. Regionalzüge und U-Bahnen gibt es (noch) nicht. Fasst täglich versinkt die Stadt im Verkehrschaos.
Straßenszene in Dhaka: Mehr als 14 Millionen Menschen leben im Großraum der Hauptstadt von Bangladesch. Regionalzüge und U-Bahnen gibt es (noch) nicht. Fasst täglich versinkt die Stadt im Verkehrschaos.
© Kevin P. Hoffmann

Bisher trägt die Textilindustrie zu rund 80 Prozent der Exporte Bangladeschs bei. Nach China und vor der Türkei ist das Land die zweitgrößte Näherei der Welt. Die Regierung treibt gleichwohl die Diversifizierung der Wirtschaft voran, fördert zum Beispiel mehr Produktion von Generikamedikamenten und Healthcare-Produkten wie beim Mischkonzern Square, einem der größten börsennotierten Unternehmen des Landes. In dessen Werk in Gazipur nördlich von Dhaka glänzen in sterilen Räumen Geräte koreanischer und deutscher Anlagenbauer. Square exportiert nach Europa und in die USA – und sorgt dafür, dass Bangladeschs Bevölkerung bei lebenswichtigen Medikamenten nicht mehr abhängig ist von teuren Produkten ausländischer Pharma-Multis.

Bangladeschs größter Standortfaktor: Billige Arbeitskraft

Nach Besuchen mehrerer Fabriken und Industrieparks und Gesprächen mit lokalen Akteuren spürt man Aufbruchsstimmung, aber auch ein starkes Beharren. Regierung und Unternehmen wollen erhalten, was man hier für den wichtigsten Standortvorteil hält: das fast konkurrenzlos niedrige Lohnniveau. Man will billig produzieren – um jeden Preis.

An der Einfahrt zu einem Industriepark der staatlichen Agentur BEPSA stehen bewaffnete Sicherheitskräfte stramm und grüßen. Männer und Mauern schützen hier heimische und ausländische Fabriken von H&M bis Walmart vor Demonstranten und zu hohen Steuern. Die Verwalter rechnen vor, dass von Asiens Billiglohnländern Arbeitskraft in China am teuersten sei, gefolgt von Thailand. Bangladesch stehe am unteren Ende der Tabelle – noch vor Sri Lanka. Zugleich wirbt man mit Berufsschulen, Kindergärten und Krankenhäusern auf dem Gelände, die vornehmlich den Arbeitern offen stünden. Es sind jedoch gerade einmal 280 000 Arbeiterinnen und Arbeiter in diesen zwölf Sonderwirtschaftszonen beschäftigt. Allein in der Textilbranche arbeiten aber insgesamt vier Millionen Personen, zu 80 Prozent Frauen.

Die Regierung in Dhaka sieht in der Digitalisierung eine große Chance, das traditionelle Gefüge der Weltwirtschaft aufzubrechen. „Die Digitalisierung ebnet strukturelle Unterschiede der Welt ein“, erklärt Informations- und Medienminister Hasanul Haq Inu. Theoretisch könne jeder von fast jedem Ort arbeiten, zumindest dort, wo es Stromanschlüsse und Datenleitungen gibt. Bereits rund 80 Prozent der Bangladescher besäßen ein Handy. „Diese Digitaltechnologie ermächtigt Menschen, auch und gerade Frauen, sich selbstständig zu machen“, meint Inu.

Sohn der Regierungschefin ruft Landsleute zur IT-Branche

Im altehrwürdigen Pan Pacific Sonargaon Hotel, einem Anlaufpunkt für ausländische Gäste im Stadtzentrum, spricht derweil Sajeeb Wajed Joj, Sohn der Regierungschefin und ihr offizieller Berater für die Digitalwirtschaft, vor Hunderten Unternehmern aus Asien. Der mögliche Regierungschef in spe richtet Worte auch an die Jugend. „Junge Leute müssen nicht auf Jobs der Regierung warten“, sagt er. Denn es gebe ja jede Menge Möglichkeiten in der IT-Industrie. Dort könnten sie dank Outsourcing „einen großen Haufen Dollar verdienen“ – sogar von zu Hause auf dem Lande.

Vor fünf Jahren, am 24. April 2013 stürzte in Sabhar, einem Vorort von Dhaka, die achtgeschossige Nähfabrik Rana Plaza ein. Mehr als 1100 Menschen kamen ums Leben.
Vor fünf Jahren, am 24. April 2013 stürzte in Sabhar, einem Vorort von Dhaka, die achtgeschossige Nähfabrik Rana Plaza ein. Mehr als 1100 Menschen kamen ums Leben.
© Abir Abdullah/EPA/dpa

„Business Processing Outsourcing“ lautet das Zauberwort. Westliche Unternehmen und sogar Privatleute lagern digitale Arbeiten wie das Ausfüllen von Formularen, Anträgen, Lieferzetteln aus – am besten nach Bangladesch, so die Hoffnung. Es gibt immer mehr Uni-Absolventen und zumindest die studierte Jugend spricht auch wegen der britisch kolonialen Vergangenheit gut Englisch. Gab es vor zehn Jahren erst 300 Jobs in diesem Segment, sind es nun 40.000, sagt Joy. Was er nicht sagt: Darunter sind auch viele Solo-Arbeiter, die kein Arbeitgeber mehr ausbeutet, weil sie sogar das selbst erledigen, indem sie ihr Honorar über Plattformen frei aushandeln können – beziehungsweise müssen. Rund 10.000 Jobs sollen in drei Jahren durchs Outsourcing entstanden sein.

„Bangladeschs IT-Dienstleisterszene hat in den letzten Jahren einen großen Sprung gemacht“, bestätigt ein indischer Manager, der mit seiner Firma zur Konferenz angereist ist. Es gehe hier aber weniger um Programmierarbeiten, mehr um einfache Dinge, auch den Betrieb von Hotlines, für die man in anderen Ländern heute keine Mitarbeiter mehr teuer bezahlen wolle. Die lukrativen Jobs dürften in Indien bleiben, glaubt er.

Die Recherche wurde unterstützt vom Außenministerium von Bangladesch.

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