EU-Kommissarin Stella Kyriakides: "Die Bürger wollen wissen, was sie auf ihre Teller legen"
In Deutschland soll der Nutri-Score gesunde und ungesunde Lebensmittel kennzeichnen. Wird es das Modell für ganz Europa? Das wird schwierig.
Wenn Deutschland am 1. Juli die Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union übernimmt, hat Bundesernährungsministerin Julia Klöckner (CDU) ein Ziel: Sie will in der EU eine einheitliche Nährwertkennzeichnung durchsetzen. Italiener, Finnen, Spanier und Deutsche sollen mit einem Blick auf die Vorderseite von Müslipackungen oder Tiefkühlpizzen erkennen können, ob das Produkt gesund ist oder ob sie besser die Finger davon lassen. „Ein europaweit einheitliches Nährwertkennzeichnungssystem halte ich für die beste Lösung, dafür setze ich mich ein“, kündigt die deutsche Ministerin an.
Die neue EU-weite Kennzeichnung will Klöckner auf freiwilliger Basis einführen. Das unterscheidet sie von den Nährwerttabellen, die die Hersteller schon heute auf die Packungen drucken. Die Tabellen sind Pflicht, werden aber von den meisten Konsumenten ignoriert. Die kleingedruckten Angaben auf der Rückseite sind vielen Verbrauchern schlicht zu kompliziert.
Jedes Land hat sein eigenes System
Das neue Label soll dagegen einfach und prägnant sein. Es gibt aber ein Problem: Wenn es um die Kennzeichnung von Salz, ungesättigten Fettsäuren, Zucker oder Kalorien geht, ist Europa ein Flickenteppich. Der nationale Kennzeichnungseifer wird zum Handicap für eine EU-weite Lösung. „Ich weiß, und ich verstehe voll und ganz, dass die Bürger wissen wollen, was sie in ihren Einkaufskorb geben und auf ihren Teller legen – diese Erwartung ist berechtigt“, sagte EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides dem Tagesspiegel. In den vergangenen Jahren seien aber verschiedene freiwillige Nährwertkennzeichnungen auf der Vorderseite entwickelt worden, um den Verbrauchern zu helfen, gesündere Lebensmittel auszuwählen. „Das führt jedoch zu unterschiedlichen Situationen in unseren Mitgliedstaaten“, gibt die EU- Kommissarin zu bedenken.
So verwendet Schweden das Keyhole-Modell, ein weißes Schlüsselloch auf grünem Grund, Tschechien setzt auf das Healthy-Choice-Logo, ein farbiger Haken, der an Checklisten erinnert. Wer in Finnland gesund einkaufen will, greift zu Waren mit dem Herzsymbol. So unterschiedlich all diese Modelle aussehen, so haben sie doch eines gemeinsam: Sie kennzeichnen Waren, die besser abschneiden als ihre Konkurrenzprodukte, und helfen so, den Schokopudding oder die Fischstäbchen herauszufinden, die weniger Zucker oder Fett enthalten als die Wettbewerber im (Tief)-Kühlregal.
Italien markiert problematische Inhaltsstoffe mit einem hellblauen Batteriemodell. Die Briten, die brexitbedingt keine Rolle mehr bei der Suche nach dem besten Modell spielen, preisen ihre Lebensmittelampel. Favorit und Liebling der Verbraucherschützer ist das Modell, das die Franzosen entwickelt haben und das auch in deutschen Supermärkten immer häufiger zu finden ist: der Nutri-Score.
Einfach und intuitiv: der Nutri-Score
Der Nutri-Score verrechnet positive Nährwerteigenschaften eines Lebensmittels wie Ballaststoffe, Obst oder Nüsse mit den negativen wie Zucker, Salz und gesättigten Fettsäuren. Am Ende steht ein Urteil, das sowohl farblich als auch mit einem Buchstaben gekennzeichnet wird. Bei einem grünen „A“ kann man zugreifen, Produkte mit rotem „E“ sollte man lieber meiden. Beispiel: Während die Knusper-Frites von Bofrost ein „A“ haben, bekommen die Backofen-Röstis wegen des Zuckers und Salzes nur ein „C“.
Nachdem sich deutsche Verbraucher im vergangenen Jahr in einer Abstimmung für den Nutri-Score ausgesprochen haben, will Klöckner das Modell jetzt auch in Deutschland einführen. Allerdings braucht das seine Zeit. Die entsprechende Verordnung ist noch in der Ressortabstimmung, anschließend muss das Projekt in Brüssel notifiziert werden. Das wird drei Monate dauern. Frühestens Mitte des Jahres und damit zu Beginn der EU-Ratspräsidentschaft könnte die Verordnung in Kraft treten. Ob Unternehmen mitziehen, ist ihnen überlassen. Das Ganze ist freiwillig.
Große Anbieter verwenden den Nutri-Score schon jetzt. Danone hatte 2019 den Anfang gemacht, jetzt ziehen Iglo und der Lebensmittelriese Nestlé nach. Die ersten Wagner-Pizzen aus Nestlé-Produktion tragen bereits den Nutri-Score, innerhalb von zwei Jahren will der Konzern in Deutschland, Belgien, Frankreich und in der Schweiz 5000 Produkte labeln, darunter auch Kandidaten für Schlechtbewertungen wie Schokoriegel.
Frankreich und Belgien haben den Nutri-Score bereits eingeführt, Österreich, die Niederlande und Luxemburg sind interessiert. Mittelständische Lebensmittelhersteller beklagen jedoch den Aufwand. Das Copyright für den Nutri-Score hat eine Behörde, die dem französischen Gesundheitsministerium angegliedert ist. Deutsche Lebensmittelproduzenten müssen sich in Frankreich grünes Licht holen, vielen ist das zu kompliziert. Das Bundesernährungsministerium arbeitet inzwischen an einer Vereinfachung für deutsche Produzenten.
Auch eine Herkunftskennzeichnung ist geplant
Eine europäische Bürgerinitiative sammelt seit Monaten Stimmen, um den Nutri-Score zum europäischen Pflichtmodell zu machen. EU-Kommissarin Stella Kyriakides geht das jedoch zu schnell. Die EU-Kommission bereitet jetzt zunächst einen Bericht vor, in dem sie die verschiedenen Systeme in den EU-Staaten prüft. Erst dann will man über die beste Vorgehensweise auf EU-Ebene entscheiden.
Der Vorschlag Brüssels über die EU-Nährwertkennzeichnung soll Teil eines ehrgeizigen Konzepts werden, das die zyprische Kommissarin im Frühjahr vorlegen will. „Farm to fork“ (vom Hof auf den Tisch) soll eine Gesamtstrategie für mehr Tierwohl, weniger Pestizide, den Kampf gegen Lebensmittelverschwendung und eine nachhaltigere Agrarproduktion enthalten.
Neben der Nährwertkennzeichnung will Kyriakides auch ein weiteres heißes Eisen anfassen: die Herkunftskennzeichnung von Lebensmitteln. „Die Verbraucher wollen mehr Transparenz und klare Informationen über die Herkunft von Lebensmitteln, deshalb müssen wir gemeinsame Wege zur Herkunftskennzeichnung auf EU-Ebene finden – etwas, das wir derzeit prüfen“, sagte die EU-Kommissarin dem Tagesspiegel.
Derzeit ist eine Herkunftsangabe nur für wenige Lebensmittel vorgeschrieben, unter anderem für unverarbeitetes Obst und Gemüse, Eier, Fisch und Fleisch. Bei verarbeitetem Fleisch sowie den meisten anderen Lebensmitteln erfahren Verbraucher dagegen nicht, woher die Zutaten stammen und wo sie verarbeitet wurden, kritisiert das Internetportal Lebensmittelklarheit.de.
„So muss beispielsweise ein Hersteller von Erdbeer-Konfitüre nicht darüber informieren, wo das Obst geerntet wurde. Die Herkunft der Milch in einem Jogurt erfährt der Kunde ebenfalls in der Regel nicht“, bemängeln die Verbraucherschützer.