Messewirtschaft in der Coronakrise: „Die Branche ist zutiefst erschüttert“
Die Messewirtschaft warnt vor einem erneuten Lockdown. Grüne Woche als 2G-Veranstaltung geplant.
Alle Jahre wieder trifft sich die Prominenz aus Wirtschaft und Politik auf dem Deutschen Arbeitgebertag. An diesem Dienstagmorgen sollte die Veranstaltung im Berliner Estrel Hotel mit einer Rede von Angela Merkel beginnen, anschließend stand ihr mutmaßlicher Nachfolger Olaf Scholz auf dem Programm; auch Annalena Baerbock, Christian Lindner und Markus Söder wurden erwartet. Doch dann kam vergangenen Freitag die überraschende Absage: Das Robert-Koch-Institut (RKI) und die Bundesregierung hätten „dringend dazu geraten, Großveranstaltungen möglichst abzusagen“, teilte die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände mit. „Wir wollen in der jetzigen Situation Verantwortung übernehmen und schieben den Deutschen Arbeitgebertag in das nächste Jahr.“
"Die Rezepte schmecken nicht mehr"
In der Veranstaltungsbranche, im Messe- und Kongressgeschäft macht sich wieder Panik breit. Die Empfehlung des RKI, „pauschal jegliche Veranstaltungen abzusagen, ist bei einer Impfquote von wenigstens 78 Prozent der Erwachsenen kaum mehr nachvollziehbar“, meint Jörn Holtmeier, Geschäftsführer des Verbandes der deutschen Messewirtschaft (Auma). Er warnt die Politik vor „Aktionismus“ und hofft auf ein „sehr umsichtiges“ Agieren. „Die Rezepte des vergangenen Winters schmecken nicht mehr“, sagt Holtmeier. Einen erneuten Lockdown dürfte es keinesfalls geben.
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Fünf Leitmessen aus Berlin
Deutschland mit zahlreichen internationalen Leitmessen, darunter fünf in Berlin, ist weltweit der profilierteste Messestandort. Ungefähr 60 Prozent der global führenden Veranstaltungen finden hierzulande statt. Gemessen am Umsatz haben fünf der zehn weltweit größten Messegesellschaften ihren Sitz in Deutschland, schreibt das Münchener Ifo-Institut in einer Analyse der Corona-Folgen. Zwischen März 2020 und Juni 2021 gab es in München, Frankfurt (Main), Hannover und Leipzig so gut wie keine Messen und Kongresse. Ifo und Auma quantifizieren den gesamtwirtschaftlicher Schaden bis heute auf 43,5 Milliarden Euro. Betroffen sind neben den Messegesellschaften vor allem auch Hotellerie, Gastwirtschaft und Transportbranche.
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Die landeseigene Messe Berlin musste im vergangenen Jahr mit 67 Millionen Euro vom Land unterstützt werden. In diesem Jahr dürfte der Betrag kaum geringer ausfallen. Von der jetzt hochschwappenden vierten Welle wird Berlin in den verbleibenden Wochen des Jahres nicht besonders stark getroffen, weil nur noch kleine Veranstaltungen auf dem Programm stehen. Anfang 2022 sieht das dann ganz anders aus: Vom 21. bis 30. Januar ist die Grüne Woche als 2G-Veranstaltung terminiert. Im Februar steht die Fruit Logistica an und im März die Tourismusbörse ITB. So ist der Plan.
Re-Start ohne Funkausstellung
„Aussteller, Besucher und Veranstalter von sicher, sorgsam und verantwortungsvoll geplanten Messen sind zutiefst verunsichert", beschreibt Verbandschef Holtmeier die aktuelle Lage. Unsicherheit ist Gift für die Branche, die mit ein paar Monaten Vorlauf plant und sich jetzt auf Stornierungen einstellen muss. Wenn eine kritische Größe erreicht ist, folgt dann die komplette Absage. Wie etwa für die Funkausstellung Ifa, die Anfang September unterm Berliner Funkturm stattfinden sollten. Nachdem Großaussteller wie Miele und Electrolux ihre Teilnahme abgesagt hatten, musste die Messe Berlin die Ifa bereits im Mai abblasen. Damit erfolgte der Re-Start des deutschen Messewesens im Spätsommer ohne die Internationale Funkausstellung. Trotzdem sind inzwischen nach Angaben der Messe Berlin ihre rund 700 Beschäftigten wieder voll im Dienst – die Kurzarbeit ist überwunden. Ob es dabei bleibt, weiß derzeit niemand vorauszusagen.
Seit September sind in allen 16 Bundesländern Messen unter strengen Hygienekonzepten möglich. Trotzdem ist auch das zweite Pandemiejahr so gut wie verloren: „Über zwei Drittel der 380 für 2021 geplanten Messen wurden seit Jahresbeginn aus dem Programm genommen", hat der Auma ausgerechnet. Die von Bundesländern oder Kommunen gehaltenen Messegesellschaften können nur mit staatlichen Hilfen überleben.
"Impfen ist gelebte Solidarität"
Verbandschef Holtmeier appellierte am Montag an die Bundesbürger, sich impfen zu lassen. Mehr als 58 Millionen Menschen in Deutschland hätten verstanden, dass Impfen „gelebte Solidarität“ sei. „Eine zutiefst von der Coronakrise erschütterte Branche mit über 230 000 Beschäftigten hat kein Verständnis mehr für Unverständnis“, sagte Holtmeier in Richtung Impfverweigerer. „Der Weg aus dieser Pandemie ist das Impfen.“
Art Cologne findet statt
rotz vierter Welle laufen in diesen Tagen noch ein paar Großveranstaltungen an. Nachdem es 2020 ein rein virtuelles Format gegeben hatte, öffnete am Montag die weltgrößte Medizintechnik- Messe Medica in Düsseldorf die Hallentore. Die productronica als Weltleitmesse für Entwicklung und Fertigung von Elektronik beginnt am Dienstag in München. In Köln steht von Mittwoch an die Art Cologne an, zu der inklusive Begleitveranstaltungen fast 300 Aussteller und Tausende Besucher erwartet werden. Zweimal war die Kunstmesse bereits verschoben worden, jetzt wird unter 3G- Bedingungen durchgezogen. „Jeder wird kontrolliert“, heißt es bei der Kölner Messegesellschaft, die aber keine Prognose wagt über die Zahl der erwarteten Besucher in diesen Coronazeiten.