Siemens-Chef Joe Kaeser: "Die 4. industrielle Revolution stellt alles in den Schatten"
Der Vorstandsvorsitzende von Siemens erläutert, wie wir die Chancen der Digitalisierung nutzen können und spricht von einer "Sozialen Marktwirtschaft 2.0".
Wir stehen heute am Anfang einer Entwicklung, die unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft grundlegend verändern wird: der Vierten Industriellen Revolution. Sie ist die größte Transformation der Industriegeschichte und wird an Energie und Geschwindigkeit alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen. Hat diese Revolution anfangs die digitale Konsumwelt erfasst, ist sie inzwischen in der Welt der Industrie angekommen und damit in einem Bereich, der für 70 Prozent des globalen Warenaustauschs steht und damit zum „Wohlstand der Nationen“ maßgeblich beiträgt, um mit Adam Smith zu sprechen.
Digitalisierung hilft beim Bevölkerungswachstum
Für die Welt der Fertigung heißt das: Mit dem „digitalen Zwilling“ lassen sich Produkte in der virtuellen Welt entwickeln, simulieren und testen – bevor der erste Prototyp fertig ist, die erste Produktionslinie entsteht oder die Produktion startet. So können Produkte schneller, flexibler, effizienter, ressourcenschonender und qualitativ hochwertiger gefertigt werden. Der Einsatz von Technologien wie 3D-Druck und künstlicher Intelligenz wird die Entwicklung noch beschleunigen. Wenn die Prognosen richtig sind, werden 2050 rund zehn Milliarden Menschen auf unserem Planeten leben. Allein schon das Bevölkerungswachstum zwingt uns, die vorhandenen Ressourcen unseres Planeten besser als bisher zu nutzen. Die Industrielle Digitalisierung ist ein entscheidender Hebel dafür.
Neue Beziehung zwischen Mensch und Maschine
In der Vierten Industriellen Revolution geht es jedoch nicht allein um Technologien und Geschäftsmodelle; es geht um unsere Gesellschaft. Kürzlich hat die Beratungsgesellschaft McKinsey eine Studie veröffentlicht, in der sie analysiert, wie sich die Arbeitswelt verändern könnte. Demnach werden bis 2030 bis zu 375 Millionen Menschen weltweit ihren Beruf wechseln oder völlig neue Fertigkeiten erlernen müssen. Das entspräche 14 Prozent aller Arbeitskräfte.
Die Arbeitswelt wird eine andere sein mit völlig neuen Berufsbildern und auch neuen Arten der Zusammenarbeit wie der von Mensch und Maschine, und das hat Folgen für ganze Wirtschaftszweige. Es werden Millionen von Arbeitsplätzen verschwinden, es werden aber zugleich Millionen neuer Arbeitsplätze entstehen. Aber eben andere! Diesen globalen Strukturwandel zu gestalten, das ist die Herausforderung unserer gesamten Gesellschaft. Dabei sind auch die Sozialpartner gefragt. Übliche Verhandlungspraktiken und -taktiken werden nicht mehr tragen. Unternehmenslenker und Arbeitnehmer sollten die Vierte Industrielle Revolution als Tatsache akzeptieren und sie als Chance begreifen. Wer den Wandel nicht annimmt, trägt letztlich Mitverantwortung, wenn Jobs verloren gehen und Innovation und Beschäftigung abwandern.
Mehr Arbeitsplätze sind möglich
Die Vergangenheit zeigt: Jede industrielle Revolution hat mehr Arbeitsplätze geschaffen als vernichtet und für eine bessere Welt gesorgt. Das galt für die Erfindung der Dampfmaschine, der Fließbandfertigung und der Automatisierung durch Computer. Und so wird es auch bei der Revolution sein, die virtuelle und reale Welt verknüpft. Wenn wir es richtig anstellen.
Wie gelingt es, die Vierte Industrielle Revolution erfolgreich zu meistern?
"Soziale Marktwirtschaft 2.0"
Erstens, indem wir von der Vergangenheit lernen und die Basis für eine „inklusive Gesellschaft“ legen, für eine „Soziale Marktwirtschaft 2.0“. Mit ihrer Vorgängerin haben wir in den vergangenen Jahrzehnten sehr gute Erfahrungen gemacht. Sie weist den Weg zu einem tragfähigen Zukunftsmodell für wirtschaftlichen und sozialen Wohlstand. Unternehmen kommt hier eine besondere Rolle zu. Heute erwarten Kunden, Mitarbeiter, die Öffentlichkeit und die Politik zu Recht, dass Unternehmen mehr gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Indem sie sich zum Beispiel für den Klimaschutz einsetzen und für soziale Gerechtigkeit, oder sich für Flüchtlinge engagieren. Indem sie junge Menschen ausbilden und Arbeitsplätze schaffen. Kurz, indem sie Sinn stiften. Zu Verantwortung gehört auch, den Strukturwandel aktiv anzugehen.
Mehr in die Bildung stecken
Ein zweiter wesentlicher Erfolgsfaktor ist Bildung. Die Politik muss weit mehr tun, um in Kindergärten, Schulen und Universitäten digitale Kompetenzen zu fördern. Und Unternehmen müssen weit mehr tun, um Mitarbeiter für das digitale Zeitalter fit zu machen. Bei Siemens etwa ist die Vermittlung digitaler Fähigkeiten Bestandteil aller Ausbildungsgänge.
Drittens gilt es, Innovation und Anpassungsfähigkeit zu fördern – in Firmen und in der der Gesellschaft insgesamt. Denn wer diese Anpassungsfähigkeit nicht mitbringt, wird letztlich hoffnungslos zurückfallen – mit ökonomischen und sozialen Folgen. Das digitale Zeitalter duldet kein Mittelmaß. Es ist binär: 1-0, Ein-Aus. So einfach ist das und doch so schwer zu akzeptieren.
Mut und Geisteshaltung sind gefragt
Zum vierten Erfolgskriterium: der richtigen Geisteshaltung. Wir brauchen den Mut, uns auch mit unbequemen Fragen auseinanderzusetzen. Wie können wir Menschen neue Fähigkeiten vermitteln, deren Tätigkeiten Maschinen übernommen haben? Wie können wir die digitale Welt sicherer machen, Stichwort Cybersicherheit? Wie können wir Rechte und Freiheiten des Individuums auch in Zukunft garantieren? Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kirchen müssen auf diese Zukunftsfragen gute Antworten geben.
Die Sehnsucht nach einer vermeintlich guten alten Zeit mag ein Gefühl von Sicherheit vermitteln. Dieses Sicherheitsversprechen trägt jedoch nicht, dafür dreht sich die Welt zu schnell. Wir sollten uns daher auf den Weg machen, echte Antworten zu finden, für unsere eigene Zukunft und für kommende Generationen. Die Vierte Industrielle Revolution bietet große Risiken für all diejenigen, die zusehen, abwarten und endlos debattieren. Und sie bietet großartige Chancen für diejenigen, die sie aktiv gestalten. Ich denke, diese Chancen sollten wir nutzen.
Joe Kaeser