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Recep Tayyip Erdogan und sein Schwiegersohn Berat Albayrak, ehemals Finanzminister.
© Mikhail Klimentyev/imago images

Die 128-Milliarden-Dollar-Frage: Devisenschwund setzt Erdogan unter Druck

Die türkische Opposition fordert Details zum Verbleib einer großen Geldsumme. Die Erklärungsversuche sind widersprüchlich.

Die türkische Regierung hat die meisten Medien und die Justiz des Landes unter ihrer Kontrolle – und doch wird Präsident Recep Tayyip Erdogan eine unangenehme Frage nicht los. „Wo sind die 128 Milliarden Dollar?“ fragen die Opposition aber auch Wähler von Erdogans Partei AKP. So sehr sich der Präsident auch bemüht, er kann der Frage nicht entkommen.

Sie wird ihm im Fernsehen und im Internet gestellt, auf Plakaten und zuletzt auch am Wochenende in einem Live-Chat mit Jungwählern auf YouTube. Der deutsch-türkische Boxer Ünsal Arik in Bayern druckte sie sich auf ein T-Shirt und ließ sich damit fotografieren. Eine überzeugende Antwort bleibt Erdogan weiter schuldig.

Das liegt wohl daran, dass es keine gute Antworten gibt. In der Amtszeit von Erdogans Schwiegersohn Berat Albayrak als Finanzminister gab die türkische Zentralbank vom Frühjahr 2019 bis zum Herbst vergangenen Jahres laut der Opposition 128 Milliarden Dollar an Devisenreserven aus, um den Kursverfall der türkischen Lira aufzuhalten. Eine Leitzinsanhebung zur Stützung der Lira kam nicht in Frage, weil Erdogan gegen Zinserhöhungen ist.

Der Präsident hat in weniger als zwei Jahren drei Mal den Chef der Zentralbank ausgewechselt. Zuletzt musste im März Naci Agbal als oberster Währungshüter gehen: Der Opposition zufolge hatte Agbal untersuchen wollen, was mit den 128 Milliarden Dollar geschah.

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Albayrak trat als Finanzminister im November zurück. Sein Versuch, die Lira zu stärken, ist gescheitert: Die Währung hat seit Anfang 2019 fast 40 Prozent ihres Wertes gegenüber Dollar und Euro verloren. Der regierungskritische Wirtschaftsexperte Ugur Gürses schätzt, dass die Gesamtverluste sogar bei 140 Milliarden Dollar liegen, weil sich staatliche Banken mit zwölf Milliarden an den Devisenverkäufen beteiligt hätten.

Widersprüchliche Erklärungsversuche von Erdogan

Die Erklärungsversuche der Regierung waren zum Teil widersprüchlich. Im Februar teilte Erdogan mit, ein Großteil des Geldes sei zur Bekämpfung finanzpolitischer Turbulenzen in der Pandemie ausgegeben worden, einen Monat später sagte er, es gebe keine Verluste. Zuletzt betonte er, die Türkei habe Reserven von 90 Milliarden Dollar. Der Präsident wirft der Opposition vor, die Bevölkerung hinters Licht führen zu wollen.

Ihre Angaben zu den 128 Milliarden seien „von vorne bis hinten falsch“. Auch der neue Zentralbankchef Sahap Kavsioglu sagt, es gebe bei den Devisen nur „Umschichtungen“. Als die Opposition auf Plakatwänden nach den 128 Milliarden fragte, wurden die Plakate in einigen Städten von der Polizei abgerissen; nun ermittelt die Justiz wegen Präsidentenbeleidigung.

Für Erdogan ist das Thema gefährlich. Die AKP konnte in den vergangenen Jahrzehnten viele Wahlen gewinnen, weil die Wähler ihr eine größere Wirtschaftskompetenz zusprachen als anderen Parteien. Seit einigen Jahren geht es mit der Konjunktur allerdings bergab. Das Land hatte im vergangenen Jahr gerade eine Rezession hinter sich, dann kam auch noch die Pandemie. Die Opposition wirft der Regierung Korruption und Nepotismus vor.

Nun profitieren Erdogans Gegner von dem Eindruck, die Regierung habe mitten in einer Wirtschaftskrise Milliarden verpulvert. In den Umfragen legen die Oppositionsparteien zu. Einer Befragung des Instituts Aksoy zufolge sagen 67 Prozent der Wähler, bei der Frage nach dem Verbleib der 128 Milliarden gehe es allein um den Devisenschwund und nicht um eine Beleidigung des Präsidenten. Da die AKP in der Wählergunst bei etwa 34 Prozent liegt, bedeutet dies, dass auch Erdogan-Wähler wissen wollen, wo das Geld geblieben ist.

Trickfilm als Geschenk für die Opposition

Nach dem Motto „Angriff ist die beste Verteidigung“ veröffentlichte die AKP vergangene Woche einen Trickfilm, in dem die Partei CHP von Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu als „Lügenmaschine“ karikiert wurde. Doch der Schuss ging nach hinten los: Nach nur einem Tag wurde der Film im Internet wieder gelöscht, Medienberichten zufolge auf Anordnung von Erdogan persönlich.

Der Präsident soll sich besonders über eine Szene geärgert haben, in der Kilicdaroglu gebetsmühlenhaft denselben Spruch wiederholte und damit als einfallsloser Versager dargestellt werden sollte. Die Sequenz erwies sich als Geschenk an die Opposition, denn der Zeichentrick-Kilicdaroglu fragte im Film der AKP immer wieder: „Wo sind die 128 Milliarden Dollar?“

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