Mindestlohn im Vergleich: Deutschland im europäischen Mittelfeld
Der Mindestlohn hierzulande liegt derzeit bei 9,50 Euro. Zwölf Euro wären möglich, meinen Wissenschaftler der Böckler-Stiftung.
In der Coronazeit steigen auch die Mindestlöhne weniger stark, doch immerhin gab es Anfang 2021 eine Erhöhung um durchschnittlich 3,1 Prozent in Europa. Vor einem Jahr hatte der nominale Anstieg noch 6,1 Prozent ausgemacht, teilte die Hans-Böckler-Stiftung des DGB mit. Mit der aktuellen Studie geben die Wissenschaftler deutschen Politikern eine Vorlage für den Bundestagswahlkampf, denn mit SPD, Grünen und Linken plädiert ein großer Teil des Parteienspektrums für einen gesetzlichen Mindestlohn von zwölf Euro. Die große Koalition hatte 2015 die Untergrenze eingeführt und bei 8,50 Euro gezogen.
In der Regel steigt der Mindestlohn alle zwei Jahre in dem Ausmaß der allgemeinen Tarifsteigerung. Aktuell liegt der Stundenlohn bei 9,50 Euro; in mehreren Schritten geht es bis Mitte 2022 auf 10,45 Euro hoch. Auf diese Erhöhungen hatten sich die Arbeitgeber in der Mindestlohnkommission im vergangenen Sommer eingelassen, um das Thema aus dem Wahlkampf zu halten. Das wird indes schwierig, weil es in vergleichbaren Ländern höhere Löhne gibt.
13 EU-Länder liegen höher als Deutschland
„Als international üblicher Indikator für die Angemessenheit des Mindestlohns gelten 60 Prozent des jeweiligen Medianlohns oder 50 Prozent des Durchschnittslohns“, schreibt die Böckler-Stiftung mit Hinweis auf die EU-Kommission und deren Richtlinienentwurf für angemessene Mindestlöhne. Hierzulande entsprach der Mindestlohn 2019, dem letzten Jahr, für das internationale Vergleichsdaten vorliegen, nach Berechnungen der OECD lediglich 48,2 Prozent des Medianlohns. 13 EU-Länder kamen auf höhere Werte als Deutschland. Würde man 60 Prozent veranschlagen, ergäbe das für Deutschland rund zwölf Euro, wie eine Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) ergab. „Gemessen am mittleren Lohn ist der Mindestlohn in Deutschland mit lediglich 48 Prozent des Medians sehr moderat“, heißt es in der Böckler-Studie. Im EU-Vergleich liege die wohlhabende Bundesrepublik damit nur auf dem 14. von 21 Plätzen.
Würden die Mindestlöhne mittelfristig an den Richtwert von 60 Prozent angepasst, erhielten in Deutschland rund 6,8 Millionen und EU-weit gut 25 Millionen Menschen „erstmals einigermaßen auskömmliche Stundenlöhne bei gesamtwirtschaftlich überschaubaren Kosten“, schreiben die Wissenschaftler und versprechen sich Rückenwind für die deutsche Debatte vor allem aus Brüssel.
Mit ihrer im vergangenen Oktober vorgelegten Mindestlohninitiative verfolge die EU-Kommission eine „inklusive Wachstumsstrategie, die die Reduzierung sozialer Ungleichheit als eine wesentliche Voraussetzung für eine nachhaltige ökonomische Entwicklung ansieht“. Dieser „Paradigmenwechsel“ sei bedeutend, da die Brüsseler EU-Spitze nicht nur höhere gesetzliche Lohnuntergrenzen favorisiere, sondern auch eine Stärkung von Tarifverträgen. Konkret sollen alle Mitgliedsstaaten, in denen die Tarifbindung unter 70 Prozent der Beschäftigten liegt, unter anderem Aktionspläne zur Förderung von Tarifverhandlungen entwickeln. Handlungsbedarf gibt es demnach auch in Deutschland, wo nach Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung nur 52 Prozent der Beschäftigten von einem Tarifvertrag profitieren. In Westdeutschland etwas mehr, in Ostdeutschland deutlich weniger.
Höhere Mindestlöhne hätten „keine relevanten negativen Beschäftigungseffekte“, meinen die Gewerkschafter und verweisen auf eine britische Studie sowie auf Erfahrungen in Spanien und Neuseeland. Auch hierzulande hatte es vor der Einführung 2015 größte Bedenken von Arbeitgebern und Ökonomen gegeben. Der prophezeite Stellenabbau blieb jedoch aus.