Forderungen nach zwölf Euro: Deutschland hinkt beim Mindestlohn in der EU hinterher
Deutschland ist die stärkste Wirtschaftskraft in Europa. Beim Mindestlohn aber werden EU-Ziele nicht erreicht, zeigt eine Studie.
Die Spannweite zwischen hohen und niedrigen Löhnen schrumpft und auch der Niedriglohnsektor wird kleiner. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat Daten von 1995 bis 2018 ausgewertet und dabei vor allem einen Effekt des 2015 eingeführten Mindestlohns festgestellt. „Gerade die zehn Prozent der Beschäftigten mit den geringsten Stundenlöhnen verzeichnet mit dem Mindestlohn einen überdurchschnittlichen Anstieg, was die Lohnungleichheit spürbar zurückgehen ließ.“
Erfassung der Arbeitszeit für Mindestlohn immer wichtiger
Eine aktuelle Studie der Böckler-Stiftung des DGB kommt unterdessen zu der Einschätzung, „2020 könnte in Europa das Jahr des Mindestlohns werden“. Hierzulande liegt die Lohnuntergrenze seit Anfang des Jahres bei 9,35 Euro. Im nächsten Jahr würde es eine weitere Erhöhung um 50 Cent auf 9,85 Euro geben, indem die Tarifsteigerungen der zwei vorausgegangenen Jahre gewissermaßen nachgeholt werden. Doch die Forderungen nach zwölf Euro Mindestlohn werden nicht nur in Gewerkschaften lauter: Auch SPD, Linke und Grüne plädieren für zwölf Euro.
Dabei bedeutet der gesetzliche Anspruch auf den Mindestlohn nicht auch den Bezug des Mindestlohns: Unter Berücksichtigung der Überstunden haben 2018 nach Erhebungen des DIW 3,8 Millionen Menschen keinen Mindestlohn bekommen. Neben mehr Kontrollen durch den Zoll könnte eine Erfassung der Arbeitszeit gegen diesen Missstand helfen, glauben die Wissenschaftler. „Die vom Europäischen Gerichtshof geforderte systematische Erfassung der Arbeitszeit wäre ein wichtiger Schritt, unbezahlter Mehrarbeit bei Mindestlohnempfängern entgegenzuwirken“, hieß es am Mittwoch in einem DIW-Papier.
Das Bundesarbeitsministerium bereitet gerade einen Gesetzentwurf zur Arbeitserfassung vor. Das DIW konstatiert in seiner Langzeitanalyse einen „starken Anstieg der Lohnungleichheit“ von Ende der neunziger Jahre bis 2006 durch sinkende Stundenlöhne in den unteren Lohngruppen. Seit 2013 sei die Ungleichheit rückläufig und habe inzwischen wieder das Niveau von Beginn der 2000er Jahre erreicht.
Entscheidend dafür ist der Mindestlohn, der auch dazu geführt habe, dass der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten zwischen 2015 und 2018 von 23,7 auf 21,7 Prozent gesunken sei. „Es sind aber immer noch 7,7 Millionen Beschäftigte, die weniger als zwei Drittel des Medianlohns bekommen“, schreibt das DIW.
Löhne in Frankreich im Jahr 2018 am höchsten
Eine über das bisherige Niveau hinausgehende Erhöhung des Mindestlohns würde diese Zahl reduzieren. Die EU-Kommission wünscht sich nationale Lohnuntergrenzen auf einem existenzsichernden Niveau, das bei mindestens 60 Prozent des mittleren Lohns veranschlagt wird.
Der EU-Durchschnitt lag zuletzt bei 51 Prozent; in Deutschland entsprachen 2018 die damals gültigen 8,84 Euro nach Berechnungen der OECD sogar nur 46 Prozent. 2018 ist das letzte Jahr, für das internationale Vergleichsdaten vorliegen. Nur in Frankreich und Portugal erreichte der Mindestlohn die Marke von mindestens 60 Prozent, schreibt die Böckler-Stiftung in ihrer Analyse der europäischen Mindestlöhne.
Mindestlohnkommission entscheidet im Juni
Hierzulande wird die Mindestlohnkommission, die aus jeweils drei Vertretern von Arbeitgebern und Gewerkschaftern und einem unparteiischen Vorsitzenden besteht, im Juni eine Empfehlung für die Erhöhung zum 1. Januar 2021 abgeben. Eine kräftige Erhöhung über den sogenannten Tarifindex hinaus wäre nur möglich, wenn die Kommission das mit Zwei-Drittel-Mehrheit beschließt.
Gewerkschafter argumentieren, wenn es bei der normalen Systematik bleibe, würden zwölf Euro erst gegen Ende des Jahrzehnts erreicht. Da ein Sprung auf zwölf Euro von jetzt auf gleich viele Firmen überfordern und Arbeitsplätze kosten würde, diskutiert man über einen Stufenplan, mit dem 2024 zwölf Euro erreicht würden.
Auch die Arbeitgeber haben kein Interesse an einem Wahlkampfthema Mindestlohn im kommenden Jahr. Dazu verbreitet sich die Einschätzung eines zu geringen Startniveaus: 2015 hatte die große Koalition den Mindestlohn bei 8,50 Euro eingeführt und war dabei vor einem höheren Niveau aufgrund von Arbeitsplatzsorgen zurückgeschreckt. Viele Ökonomen hatten den Verlust von Hunderttausenden Stellen befürchtet. Tatsächlich gab es einen gegenteiligen Effekt: Der Mindestlohn, von dem vor allem in Ostdeutschland Millionen profitieren, stärkte Kaufkraft und Konjunktur.