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Schlecht bezahlt. Im Gaststättengewerbe erhalten nur wenige Beschäftigte einen Tariflohn.
© dpa

Mindestlohn: 9,85 Euro ab 2021

Die Debatte um eine kräftige Erhöhung des Mindestlohns nimmt Fahrt auf. 2021 steigt er mindestens um 50 Cent auf 9,85 Euro.

Der neue Verdi-Vorsitzende hat keine Angst vor Widersprüchen. Frank Werneke möchte die „Erosion des Tarifsystems stoppen“, das sei die wichtigste Aufgabe in den kommenden Jahren. Gleichzeitig legt sich der Spitzengewerkschafter ins Zeug für eine Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro durch den Gesetzgeber. Wenn das so käme, hätte der Staat einen Stundenlohn festgesetzt, der über den unteren Einkommen in vielen Tarifverträgen liegt. Wozu braucht es künftig noch Tarifverträge, wenn der Staat das Geschäft der Tarifpartner übernimmt? Warum sollten Firmen einem Tarifverband beitreten, wenn die Politik die Löhne bestimmt? Der höhere Mindestlohn wird die Erosion des Tarifsystems verstärken. Das nimmt Werneke in Kauf.

Treffen der Mindestlohnkommission

Am heutigen Dienstag trifft sich die Mindestlohnkommission. Seit fünf Jahren gibt es sowohl den Mindestlohn als auch die Kommission. Nun beginnt eine zweite fünfjährige Periode des Gremiums, in dem unter der Leitung des ehemaligen RWE-Managers Jan Zilius drei Gewerkschafter und drei Arbeitgebervertreter alle zwei Jahre über die Lohnuntergrenze befinden. „Im Regelfall“, so heißt es in der Geschäftsordnung der Kommission, erfolgt die Erhöhung „gemäß der Entwicklung des Tarifindex des Statistischen Bundesamtes (...) in den beiden vorhergehenden Kalenderjahren“. Von der Regel kann die Kommission mit Zwei-Drittel-Mehrheit abweichen.

Hubertus Heil evaluiert das Gesetz

Im Juni 2018 war das der Fall, als das Gremium sich auf zwei Schritte verständigte: von 8,84 auf 9,19 Euro zum 1. Januar 2019 und dann weiter auf 9,35 Euro Anfang 2020. Im kommenden Juni steht die Entscheidung über den nächsten Schritt 2021 an. Eigentlich ein unspektakulärer Vorgang, doch in diesem Jahr ist das anders. SPD und Linke wollen mindestens zwölf Euro, und die EU-Kommission macht auch Druck. Hinzu kommt die erstmalige Evaluierung des Mindestlohngesetzes durch den Bundesarbeitsminister. Hubertus Heil (SPD) hat sich das Thema für die zweite Jahreshälfte vorgenommen – nach der Empfehlung der Mindestlohnkommission. Er halte zwölf Euro „perspektivisch für richtig“, hat Heil kürzlich im Tagesspiegel gesagt. Aber was bedeutet „perspektivisch“?

Zwölf Euro erst 2029

Wenn es so weiterginge wie bisher, dann wären die zwölf Euro 2029 erreicht, hat Stefan Körzel ausgerechnet, der für den DGB in der Kommission sitzt. Noch neun Jahre – das ist politisch schwierig; das Thema würde im Wahljahr 2021 hochkochen. Schauen Kommission und Gesetzgeber allein auf die Statistik, dann steigt der Mindestlohn 2021 um 50 Cent auf 9,85 Euro. Das ergibt sich aus dem Tarifindex für die Jahre 2017 und 2018, als die Tariflöhne um 5,3 Prozent kletterten. Erst bei der nächsten Anpassung des Mindestlohns, also 2023, würde die Zehn-Euro-Marke übersprungen. Die Zwölf ist weit weg.

Für Körzel war schlicht das Einstiegsniveau von 8,50 Euro zu gering. Aber mehr war nicht drin 2015 nach den Debatten und Horrorszenarien, wonach der Mindestlohn Hunderttausende Arbeitsplätze kosten würde. Die staatlich verordnete Einkommenserhöhung für Millionen hat dann vielmehr zur Stärkung von Kaufkraft und Konjunktur beigetragen.

Die meisten Beschäftigten ohne Tarif

Jetzt beginnt die Debatte von vorn. „Auch eine einmalig kräftige Erhöhung dürfte nach den Erfahrungen, die wir seit 2015 haben, nicht zu großen Beschäftigungsverlusten führen“, sagt Guido Zeitler, Vorsitzender der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG). „Die gesellschaftliche Debatte über die zwölf Euro ist da.“ Und zwar auch deshalb, weil die NGG und Verdi nicht in der Lage sind, in großen Bereichen des Dienstleistungssektors Tarife durchzusetzen.

Zum Beispiel das Gastgewerbe mit einer Million sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. In Ostdeutschland arbeiten Zeitler zufolge nur 15 Prozent der Beschäftigten in Hotels und Gaststätten nach Tarif. Also müsse der Staat ran. „Wir brauchen auch dort anständige Löhne, wo Tarifverträge fast verschwunden sind“, sagt der Chef der NGG, die derzeit versucht, zwölf Euro bei McDonald’s und anderen Firmen in der Systemgastronomie tariflich durchzusetzen. Die Debatte um eine gesetzliche Untergrenze von zwölf Euro kann da nicht schaden.

Gewerkschaften waren anfangs dagegen

Politik und die Gewerkschaften sind einen langen Weg gegangen zum Mindestlohn. Als Gerhard Schröder 2003 die Agenda 2010 vorstellte, wollte er auch eine Lohnuntergrenze. IG Metall und IG BCE waren dagegen, weil sie Angst um ihr Kerngeschäft, die Tarifpolitik, hatten. Doch der Niedriglohnsektor wurde immer größer, sodass sich der DGB 2006 für den Mindestlohn aussprach und 7,50 Euro vorschlug. 2010 wurden es 8,50 Euro, die dann von der großen Koalition 2015 eingeführt wurden.

Arbeitgeber beklagen Einmischung

„Der Versuch politischer Einmischung in die Lohnfindung widerspricht dem Prinzip, dass Lohngestaltung allein Sache der Tarifvertragsparteien ist“, sagt Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) und Mitglied der Mindestlohnkommission. Indes haben die Arbeitgeberverbände zur Erosion des Tarifsystems durch die Etablierung von Verbänden ohne Tarifbindung erheblich beigetragen. Wenn Verdi-Werneke und Zeitler von der NGG argumentieren, der Mindestlohn sei „nicht armutssicher“, dann ärgert sich Kampeter über die Vermischung von verschiedenen Bereichen: „Sozialpolitik ist ganz klar Aufgabe des Staates und darf nicht auf die Tarifvertragsparteien abgewälzt werden.“

Die EU macht Druck

Der BDA-Chef hat jedoch den Aufschlag der neuen EU-Kommission zur Kenntnis genommen. Danach sollte der Mindestlohn 60 Prozent des mittleren Lohns im jeweiligen Land entsprechen. In Deutschland sind es derzeit 47 Prozent. Es gibt nun ein Konsultationsverfahren der Kommission, in dem sich auch Kampeter äußern wird. Und dann wird sich spätestens im Juni die Mindestlohnkommission verhalten müssen zu den zwölf Euro, die in aller Munde sind.

„Wir können Druck aus dem politischen Kessel nehmen“, sagt ein Arbeitgebervertreter über die Notwendigkeit einer deutlichen Erhöhung in den kommenden zwei Jahren. Und DGB-Mann Körzel findet die Briten vorbildlich: Dort werden die zwölf Euro 2024 erreicht.

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