Umbruch der Industrie: „Deutschland als Technologieführer der Transformation“
Die Energiewende ist "vermurkst" und überhaupt wird viel zu wenig investiert. IG BCE-Chef Michael Vassiliadis vor dem Treffen des DGB mit Angela Merkel.
Die drittgrößte deutsche Gewerkschaft versteht sich als Expertin im Strukturwandel und "Treiberin einer realistischen und sozial gerechten Transformation". Expertise hat die IG BCE zweifellos: Die Ära der Steinkohle endete vor gut einem Jahr, der Ausstieg aus der Braunkohle ist beschlossen, und die Eruptionen in der Energiewirtschaft sind noch lange nicht überstanden. Immer dabei als Mitgestalter, Bremser oder Schadensbegrenzer: die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE). „Wir sind die Transformationsgewerkschaft“, sagt der Gewerkschaftsvorsitzende Michael Vassiliadis. Zunehmend ungeduldig nimmt er das Geschehen wahr in Politik und Gesellschaft. Die „vermurkste Energiewende“ ärgert ihn seit vielen Jahren, und jetzt sieht er das Land in einer „Zeitenwende, getrieben durch Digitalisierung, Globalisierung und Klimapolitik“. Wohin die Wende führt, ist offen, wohin sie führen sollte, hat die IG BCE rund 17 000 ihrer 620 000 Mitglieder gefragt. „Den Industriestandort in einem gesamtgesellschaftlichen Kraftakt zu einem globalen Technologieführer der Transformation zu machen", formulierte Vassiliadis jetzt am Sitz der Gewerkschaft in Hannover das Ziel.
Riesiger Strombedarf für saubere Chemie
Spätestens 2023 will die IG BCE den durch das Ende des Steinkohlebergbaus verursachten Mitgliederschwund gestoppt haben. Dazu sollen Hochqualifizierte, Frauen und ausländische Kollegen stärker geworben werden und mehr Geld „in Wachstumsbranchen wie Pharma und Labore“ fließen. Bis zum nächsten Gewerkschaftskongress im Herbst 2021 möchte Vassiliadis Grundzüge einer neuen Industrie- und Tarifpolitik entwickeln. Unverzichtbar sind für die Gewerkschaft Investitionen – der öffentlichen Hand wie der Unternehmen. Die Klimaneutralität der energieintensiven Branchen erfordere Anstrengungen „bislang unbekannten Ausmaßes“, wie Vassiliadis an einem Beispiel deutlich machte. BASF, Bayer, Lanxess und die anderen Chemieunternehmen hierzulande CO2-frei zu stellen würde den Strombedarf auf das Elffache in die Höhe schnellen lassen. „Allein die Chemieindustrie bräuchte dann mehr Strom als die gesamte Bundesrepublik heute“, rechnete er vor. „Wo soll all der Grünstrom herkommen?“
Angst vor der Deindustrialisierung
Das Klimapaket der Regierung gebe darauf keine Antwort. Der Ausbau der Windkraft „schrumpft und schrumpft“ und die Bundesregierung komme mit der angekündigten „Nationalen Wasserstoffstrategie“ nicht voran. „Wir sehen mittelfristig Hunderttausende guter Industriejobs in Gefahr, wenn wir hier zu Lande keine sichere und bezahlbare Versorgung mit ausreichend CO2-freiem Strom sicherstellen können“, sagte der IG BCE-Chef und legte noch einen drauf. "Ohne eine erfolgreiche Energiewende 2.0 droht nicht weniger als die Deindustrialisierung.“
DGB-Klausur mit Merkel und Habeck
Die Gewerkschaft hat Ende vergangenen Jahres rund 17 000 Mitglieder nach ihren Erwartungen gefragt. Jeder Dritte sieht die Aufgabe der IG BCE vor allem darin, "darauf zu drängen, dass Unternehmen durch Klimaschutz und Digitalisierung nicht überfordert werden". Vassiliadis zufolge fordert die Gewerkschaft "seit Jahren" die Unternehmen in ihren Branchen auf, mehr Geld in klimagerechte Produkte und Produktionsverfahren zu investieren. Was die Anforderungen der Transformation angeht, möchte die IG BCE stärker mit anderen DGB-Gewerkschaften kooperieren, vor allem mit der IG Metall. Am Mittwoch und Donnerstag treffen sich die Chefs der acht DGB-Gewerkschaften in Berlin zur alljährlichen Klausur. Auf dem Programm stehen Diskussionen mit der Bundeskanzlerin, sowie den Vorsitzenden von SPD und Grünen. "Wir müssen jetzt mal Fahrt aufnehmen", sagte Vassiliadis mit Blick auf die seit längerem im DGB laufende Zukunftsdebatte. Die meisten DGB-Gewerkschaften leiden unter Mitgliederschwund. Um Mittel zu sparen, diskutieren die Gewerkschaften Synergien, unter anderem beim Thema Schulung und Weiterbildung von Betriebsräten.
Alfons Frese
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