Hunger auf der Welt: Der Nährstoffmangel ist überall
Hilfsorganisationen warnen anlässlich der Veröffentlichung des Welthunger-Index vor Nährstoffmangel. Die Lebensmittelindustrie wittert ein neues Geschäft.
Sie werden vom Hunger geweckt und sie schlafen hungrig ein, Tag für Tag. Manche von ihnen wachen nie wieder auf. „Untragbar hoch“ – das ist nach Worten der Deutschen Welthungerhilfe die Zahl hungernder Menschen in der Welt. Zwar ist sie anteilig gesunken, seit 1990 um 39 Prozent, aber das sind noch deutlich weniger als die 50 Prozent, welche sich die Vereinten Nationen bis 2015 vorgenommen hatten. In absoluten Zahlen steigt bei wachsender Weltbevölkerung die Summe der Betroffenen sogar. Etwa 805 Millionen Menschen sind chronisch unterernährt, vor allem in Südasien und Afrika, glaubt der Verein. Jeder von ihnen ist einer zu viel.
Vielen Menschen leiden an "verstecktem Hunger"
Weit mehr Menschen aber, zeigt der aktuelle Welthunger-Index, der am Montag veröffentlicht wird, leiden unter einer anderen Form von Hunger – dem „verborgenen Hunger“. So nennen Ärzte und Entwicklungshelfer eine Mangelerscheinung, die nicht direkt mit Hungerqualen einhergeht, oft nicht einmal mit Untergewicht. Trotzdem sind ihre Auswirkungen auf Betroffene und die Entwicklung der Weltbevölkerung gravierend. Zwei Milliarden Menschen, so die Schätzungen, haben einen Mangel an Mikronährstoffen. Es fehlt ihnen an Mineralien und Vitaminen, weil ihre Ernährung einseitig ist. Das liegt zum Teil am fehlenden Zugang zu nährstoffreichen Lebensmitteln. Aber auch am Ernährungsverhalten: „Hidden Hunger gibt es auch bei uns in Deutschland“, sagt Hans Konrad Biesalski, Direktor am Institut für Biologische Chemie und Ernährungswissenschaft der Universität Hohenheim.
Nicht immer seien die Folgen dieses Mangels offensichtlich. Wie in Afrika, wo Kinder erblinden, weil ihnen Vitamin A fehlt, oder Kröpfe wachsen, weil sie nicht genug Jod zu sich nehmen. Eine Müdigkeit wegen Eisenmangels, wie sie viele Menschen auch in westlichen Ländern schon erlebt haben, gehört lediglich zu den schwächeren Symptomen von „Hidden Hunger“. „Er beeinträchtigt das körperliche Wachstum und die Lernfähigkeit von Kindern“, warnt die Welternährungsorganisation (FAO).
In vielen Entwicklungsländern sichert ein einziges Nahrungsmittel die Energiezufuhr
Während in Entwicklungsländern die Problematik meist darin besteht, dass ein einziges Nahrungsmittel wie Reis den Großteil der täglichen Energiezufuhr sichert, sind in Industrieländern häufig Gewohnheiten und Unwissen die Ursache, stellt die Welthungerhilfe fest. In Mexiko zum Beispiel werden viele Kinder dick von zuckerreichem Mais, Hühnchen und Öl – und sind doch besonders anfällig für Infektionskrankheiten und Wachstumsstörungen, weil ihnen wichtige Elemente fehlen. Selbst in Brandenburg stellten Forscher im vergangenen Jahr bei einer Untersuchung an 250 000 Kindern fest, dass der Nachwuchs aus ärmeren Familien im Schnitt ein bis zwei Zentimeter kleiner war als Gleichaltrige aus wohlsituierten, gebildeteren Haushalten. Mutmaßlich auch eine Folge von Unterversorgung.
„Biotreibstoffe, Lebensmittelspekulationen, Landraub – all das hat Auswirkungen auf die Verfügbarkeit und die Preise von Lebensmitteln“, sagt Ernährungsmediziner Biesalski. Er hat dem Problem ein Buch gewidmet: „Satt sein ist nicht genug“, mahnt er. In nicht-katastrophengeplagten Regionen trägt der wachsende Konsum industriell verarbeiteter Lebensmittel seinen Teil zum „Hidden Hunger“ bei. Je weiter Nahrungsmittel vom Rohstoff wegentwickelt werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Nährstoffe dabei verloren gehen. Gleiches gilt für Getränke.
Hunger mindert die Produktivität
Jahr für Jahr, so die Schätzungen, gehen weltweit bis zu 2000 Milliarden US-Dollar Wirtschaftsleistung als Folge dieses verborgenen Hungers verloren. Wem wesentliche Nährstoffe für eine gesunde Entwicklung fehlen, der ist weniger produktiv, lautet die Logik dahinter. Dass hierzulande die Noten von Kindern aus sozial schwachen Verhältnissen im Schnitt zwei Noten schlechter seien als andere, wie die Statistik zeigt, liege häufig an Konzentrationsschwächen und sonstigen kognitiven Rückständen, die auch auf einseitige Ernährung zurückzuführen seien, heißt es. „Im Armutsbericht der Bundesregierung wird das Problem der ungesunden Ernährung von Kindern aus armen Familien zwar erwähnt, aber nicht weiter erörtert oder gar untersucht“, bedauert Biesalski. Bis zu 16 Millionen Menschen in Deutschland gelten als arm, jedes fünfte Kind.
Aus diesen Defiziten ergeben sich später schlechtere berufliche Chancen und ein höherer Bedarf an staatlichen Sozialleistungen. Besonders häufig stellen Ärzte Unterversorgung bei Kindern alleinerziehender, arbeitsloser Mütter fest. Oft werden diese schon mangelernährt geboren, da bereits die Mutter an verborgenem Hunger leidet. Während der Schwangerschaft und im Säuglingsalter besteht ein besonders hoher Nährstoffbedarf, etwa an Folsäure. Am verheerendsten, sagt Biesalski, ist eine Unterversorgung in den ersten 1000 Tagen eines Kindes, also bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahres. Die gesundheitlichen und geistigen Folgen sind oft unumkehrbar.
Alle zehn Sekunden stirbt auf der Welt ein Kind an Unterernährung
Alle zehn Sekunden stirbt auf der Erde ein Kind an den direkten oder indirekten Folgen versteckten Hungers, heißt es bei der FAO. In Entwicklungsländern sollen Hilfsprojekte wie die der irischen Hilfsorganisation Concern Worlwide helfen, das Problem zu bekämpfen. Sie stellt Saatgut zur Verfügung und lehrt Frauen, Erdnüsse, Karotten und Sojabohnen anzubauen und sie so zu kochen, dass möglichst wenige Vitamine verloren gehen. Die Frauen sind der Schlüssel, sagt die Welthungerhilfe: weil sie für die Mahlzeiten zuständig sind.
Investitionen in die Ernährung können hohe Gewinne bringen: Das Expertenpanel des Copenhagen Consensus stufte bereits 2008 Nahrungsergänzungen für Kinder in Form von Vitamin A und Zink als eine der fünf besten Investitionen in wirtschaftliche Entwicklung ein. Ebenso die Nahrungsmittelanreicherung mit Eisen und Jod, etwa in Salz und Mehl. Und die Biofortifizierung: eine noch recht neue Methode, bei der es darum geht, Nahrungspflanzen mit einem höheren Mikronährstoffgehalt zu züchten. Große Konzerne wie Bayer forschen daran.
Die Industriestaaten setzen auf Nahrungsergänzungsmittel
In Industriestaaten, vor allem Nordamerika, wächst der Markt mit Nahrungsergänzungsmitteln rasant. Kritiker sehen darin zwar eine Chance, aber auch ein Risiko: Pillen und Pulver könnten zwar kurzfristig helfen, Mineralstoffmängel zu kompensieren. Menschen dürfen aber nicht verlernen, sich natürlich zu ernähren. „Eine Abhängigkeit von solchen Präparaten nützt nur den Konzernen“, sagt ein Arzt. Und biofortifizierte Nahrungsmittel, heißt es bei der Kinderhilfsorganisation Terre des Hommes, seien noch zu teuer für diejenigen, die sie wirklich brauchen. Speziell in Entwicklungsländern, fordern NGOs, müssten Regierungen Saatgut- und Lebensmittelproduzenten Anreize bieten, Erzeugnisse mit höherem Nährwert günstig anzubieten. „Grundsätzlich dürfen die Bemühungen um gesunde Ernährung nicht durch Marketingstrategien unterwandert werden.“
Der Teufelskreis aus unzureichender Ernährung, schlechter Gesundheit, eingeschränkter Leistungsfähigkeit und fortdauernder Armut lässt sich mittelfristig nur durch Bildung und Wohlstand unterbrechen, urteilen die Studienmacher des WHI. In Somalia wie in Deutschland.
Der Welthunger-Index wird heute in Berlin vorgestellt
Für den Welthunger-Index, der am Montag in Berlin vorgestellt wird, wird jedes Jahr der Anteil der Unterernährten in der Bevölkerung eines Landes, der Anteil untergewichtiger Kinder bis fünf Jahre und die Sterberate bei Kindern unter fünf Jahren erhoben. 26 Länder konnten ihren WHI-Wert seit 1990 um die Hälfte oder mehr reduzieren. Besonders in Angola, Bangladesch, Ghana, Kambodscha, Malawi, Niger, Ruanda, Thailand, Tschad und Vietnam hat sich die Lage verbessert. „Sehr ernst“ ist das Ausmaß des Hungers dem WHI zufolge aber immer noch in 14 Ländern, vornehmlich in afrikanischen Ländern südlich der Sahara. In Burundi und Eritrea sogar „gravierend“. Aus weiteren vermutlich ebenfalls stark vom Hunger betroffenen Ländern wie dem Kongo, Afghanistan und Somalia gibt es allerdings keine verlässlichen Daten.
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