Energiewende und Klimaschutz: Der Krampf um die Kohle
Staatssekretär Rainer Baake bringt Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel mit dem Plan einer Klimaabgabe für Kohlekraftwerke in die Bredouille. Ein Großteil der Genossen ist fassungslos.
Sigmar Gabriel als Gregor Samsa? Die tragische Figur aus Kafkas Verwandlung, hilflos und verloren? „Der liegt wie ein toter Käfer auf dem Rücken“, schimpft ein Lobbyist im Regierungsviertel über den Vizekanzler, Minister und SPD-Vorsitzenden. Es gibt reichlich Aufregung in diesen letzten Wochen vor der Sommerpause, denn ein paar Grundsatzentscheidungen über den Strommarkt stehen an. Im Kern geht es um die Zukunft der Braunkohle: der einzige relevante Energieträger, über den die Bundesrepublik (in der Lausitz und im rheinischen Revier) verfügt, der kostengünstig ist und rund ein Viertel zur Stromversorgung beiträgt. Und der einen großen Nachteil hat: Kein Brennstoff bläst so viel Kohlendioxid (CO2) in die Luft wie die Braunkohle.
Baake hat für Fischer und Trittin gearbeitet
Rainer Baake will das beenden. Seit mehr als 30 Jahren macht der Volkswirt aus Witten bei den Grünen mit. In den 1990er Jahren war er Staatssekretär bei Umweltminister Joschka Fischer in Hessen, in der gleichen Funktion arbeitete er danach für den Umweltminister Jürgen Trittin in Gerhard Schröders rot-grüner Koalition. Danach folgten Stationen bei der Deutschen Umwelthilfe und dem Beratungsinstitut Agora Energiewende. Anfang 2014 berief Gabriel Baake als Staatssekretär für Energie ins Wirtschaftsministerium. So mancher Sozialdemokrat stand unter Schock. Gabriel hatte sich jemand ins Haus geholt, der mit seinen langjährigen Weggefährten aus Ökoinstitut, WWF und Agora eine Mission hat: nach dem Ausstieg aus der Kernenergie jetzt den Ausstieg aus der Braunkohle zu organisieren.
Baake ist ein Fachmann, eine Art Hirn der Energiewende, Miterfinder des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, das die Stromwirtschaft hierzulande auf den Kopf gestellt hat. So weit, so gut. Bis zum 21. März. An dem Tag kam Baakes „Eckpunktepapier Strommarkt“ auf den Markt, das er vertrauten Journalisten zuspielte und dessen Sprengkraft sich nach und nach in diversen Regierungsvierteln ausbreitete. Nicht nur in Berlin, auch in Dresden, Potsdam und Düsseldorf, den Hauptstädten der Braunkohleländer. Um das Klimaziel der Regierung zu erreichen – im Jahr 2020 den CO2-Ausstoß gegenüber 1990 um 40 Prozent zu reduzieren – sollen die Stromerzeuger zusätzlich zu den bereits feststehenden 37 Millionen Tonnen weitere 22 Millionen Tonnen CO2 einsparen. Und zwar durch eine Klimaabgabe auf Kraftwerke, die älter als 20 Jahre sind.
Sachsen, Brandenburg und NRW sind entsetzt
In den Kohleländern rechnete man nach und kam zu dem Ergebnis, dass ein Dominoeffekt erst einzelne Kraftwerke, dann Tagebaue und am Ende die gesamte Braunkohlewirtschaft erfassen würde. „Mit Milliardensubventionen bauen wir die Erneuerbaren auf und gleichzeitig soll der einzige Energieträger, der im Wettbewerb noch besteht und der eine sichere Versorgung rund um die Uhr garantiert, aus dem Markt verdrängt werden“, regte sich Brandenburgs Wirtschaftsminister Albrecht Gerber auf. Übrigens ebenso Sozialdemokrat wie die Wirtschaftsminister aus Düsseldorf, Garrelt Duin, und Sachsen, Martin Dulig. Die Genossen sind fassungslos. Noch mal Gerber: „Mit der Braunkohlewirtschaft soll einer der stärksten Wirtschaftszweige im Osten dem Klimaziel geopfert werden.“ Und zwar vom Obergenossen Sigmar Gabriel.
Der steckt in der Klemme. Vor ein paar Wochen noch hoffte man in der SPD-Fraktion, der Parteivorsitzende werde auf Ferdinand Piëch machen und mit einem Satz die Kohleabgabe vom Tisch schießen: „Ich bin auf Distanz zu Baake.“ Doch den Zeitpunkt hat er verpasst. Wenn der Minister jetzt den Staatssekretär killt, dann landet der als Held und Märtyrer im Kampf um die Braunkohle in den Geschichtsbüchern der Klimaschützer. Und Gabriel hätte sich vor der mächtigen Lobby aus Landespolitikern, Bundestagsabgeordneten, Industrieverbänden und Gewerkschaften in den Kohlenstaub geworfen. Wie soll dieser Mann eine rot-rot-grüne Regierung führen?
Es gibt nur einen Mann, der Gabriel aus der Bredouille helfen kann – Michael Vassiliadis. Der Vorsitzende der IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) hat in Abstimmung mit den Bundesländern eine Alternative zum Baake-Plan entwickeln lassen, hinter die sich auch Industriepräsident Ulrich Grillo stellt: „Die Umsetzung der Vorschläge der IG BCE verhindert, anders als der Klimabeitrag, kostspielige Strukturbrüche und den Abbau von Arbeitsplätzen.“ Die Gewerkschaft schlägt eine Kapazitätsreserve aus alten Kohlekraftwerken vor, die nach vier Jahren stillgelegt werden, sowie einen Ausbau der besonders effizienten Kraft-Wärme-Kopplung (KWK). Beide Maßnahmen würden jeweils elf Millionen Tonnen CO2 bringen, macht in Summe die geforderten 22 Millionen.
Die Gewerkschaft hat Angst um 100 000 Arbeitsplätze
Das Ziel würde also erreicht, aber mit anderen Mitteln. Und die wären, so haben jedenfalls die Gewerkschafter ausgerechnet, für die Allgemeinheit bezahlbarer: Das Modell aus dem Bundeswirtschaftsministerium (Klimaschutzabgabe plus Anhebung der KWK-Förderung) kostet Stromverbraucher und Steuerzahler 4,8 Milliarden Euro, das der IG BCE nur 1,6 Milliarden Euro. Beeindruckender noch fällt die Rechnung der Gewerkschaft bei den sozialpolitischen Folgekosten auf. Baakes Klimaschutzabgabe würde 11 000 Arbeitsplätze direkt, weitere 24 000 indirekt und 4000 „durch Kaufkraftverlust induziert“ kosten. Und da durch den Wegfall relativ günstiger Kohlekraftwerke die Strompreise steigen – und zwar um 4,3 Milliarden Euro im Jahr –, würden in der Industrie weitere 60 000 Stellen verloren gehen. Alles in allem, so hat Vassiliadis ausrechnen lassen, sei der Verlust von rund 100 000 Arbeitsplätzen mit zehn Milliarden Euro sozialer Folgekosten verbunden. Der Vorschlag der IG BCE lasse dagegen einen „planbaren, sozialverträglichen Abbau von 3000 bis 4000 Arbeitsplätzen“ zu. Und da bis 2025 Investitionen von bis zu zwölf Milliarden Euro in neue KWK-Anlagen anstünden, sei per Saldo sogar ein positiver Arbeitsplatzeffekt möglich.
Was die Versorgungssicherheit anbelangt, würde die Stilllegung von elf Gigawatt Kraftwerkskapazität in der Braunkohle das Land von Stromimporten abhängig machen. Jedenfalls dann, wenn es dunkel ist und der Wind nicht bläst. Die Kraftwerksreserve der IG BCE schaffe dagegen einen befristeten Sicherheitspuffer von sechs Gigawatt an Reservekapazität, argumentiert Vassiliadis. Kurzum und alles in allem: Der Alternativvorschlag erreicht mit weniger Geld und sozialverträglich das gleiche Ziel wie Baakes Plan. Sofern richtig gerechnet wurde. Die Experten auf beiden Seiten verifizieren seit Tagen die Daten, und dann muss die Politik entscheiden. Genauer: Sigmar Gabriel.
Die Umweltschützer machen mobil
In einen Brief an Vassiliadis und Verdi- Chef Frank Bsirske schreibt der Minister Ende April anlässlich einer Großdemonstration in Berlin gegen die Kohlepläne seines Hauses, „Arbeitsplätze und Klimaschutz dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, noch gibt es eine Priorität für das eine oder andere“. Ob das auch für seinen Staatssekretär gilt? Dessen Truppen geben noch mal alles: Die Chefs der Grünen haben an die Bundeskanzlerin geschrieben, Agora und Umwelthilfe kommen mit neuen Expertisen auf den Markt, die den Sinn der Kohleabgabe und den Unsinn der Braunkohle belegen sollen. In den nächsten Tagen muss sich Gabriel entscheiden.
Der Text erschien in der Tagesspiegel-Beilage Agenda am 16. Juni.