Gesetzliche Krankenkassen am Limit: Den Versicherten drohen deutliche Beitragserhöhungen
Noch sitzen die gesetzlichen Krankenkassen auf dicken Finanzpolstern. Doch die Reserven sind ungleich verteilt. Bei einigen Anbietern könnte es bald eng werden.
Momentan lebt es sich recht komfortabel für gesetzlich Krankenversicherte. Um satte sieben Milliarden Euro sind die knapp 57 Millionen Kassenmitglieder dieses Jahr durch die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung entlastet worden. Und anders als bei den Privatversicherern, wo nahezu die Hälfte der Mitglieder steigende Beiträge zu verkraften hat, drohen ihnen auch im kommenden Jahr kaum höhere Kosten. Es bleibt nicht nur beim allgemeinen Beitragssatz von 14,6 Prozent. Von den Großen der Branche plant bis dato auch keine einzige, mit ihren kassenindividuell erhobenen Zusatzbeiträgen hochzugehen.
Dafür gibt es zwei Gründe:
Zum einen haben die Kassen – dank prächtiger Arbeitsmarktlage und als Folge einer überdimensionierten Beitragserhöhung noch aus dem Jahr 2011 – ordentlich was auf der hohen Kante. 20,6 Milliarden Euro waren es im September, was in etwa dem Vierfachen der gesetzlich vorgesehenen Mindestreserve entspricht.
Zum andern wurden die gesetzlichen Versicherer von Gesundheitsminister Jens Spahn zum zügigen Abbau ihrer Reserven verdonnert. Alle Kassen, die mehr als eine Monatsausgabe bunkern, haben dieses Polster nun schrittweise zu verringern. Und sie dürften, selbst wenn sie wollten, bis dahin keinen höheren Zusatzbeitrag nehmen. Obwohl es aus der Sicht mancher Haushälter besser wäre, für die erwartbar schlechteren Zeiten vorzusorgen, um allzu drastische Beitragssprünge zu vermeiden.
Jahresminus von 1,3 Milliarden Euro erwartet
Insofern herrscht in der Branche gerade die Ruhe vor dem Sturm. Dass dieser aufzieht, ist schon jetzt unverkennbar. In den ersten drei Quartalen dieses Jahres haben die Kassen rund 741 Millionen Euro mehr ausgegeben, als sie durch Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds erhielten. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum stiegen die Ausgaben um mehr als fünf Prozent, bei einem Einnahmeplus von nur 3,6 Prozent.
Nach Jahren üppiger Überschüsse werden die Kassen im Gesamtabschluss erstmals wieder in die Miesen rutschen – gerechnet wird mit einem Minus von satten 1,3 Milliarden Euro. Spahns Reformgesetze könnten den gesetzlichen Versicherern, glaubt man ihren Rechnungen, in den nächsten drei Jahren Zusatzausgaben von bis zu 40 Milliarden Euro bescheren. Und die Finanzreserven sind schon jetzt höchst ungleich verteilt.
Während es den Allgemeinen Ortskrankenkassen mit einem Minus von 142 Millionen Euro noch leidlich gut geht, kämpfen vor allem die Ersatzkassen. Sie kamen in den ersten drei Quartalen dieses Jahres auf ein Defizit von 402 Millionen Euro. Und intern gibt es unter ihnen nochmal eine bedenkliche Spreizung.
Während etwa die große Techniker Krankenkasse (TK) über eine Reserve von mehr als 1,5 Monatsausgaben verfügt, betragen die Rücklagen der DAK-Gesundheit nach Angaben ihres Sprechers Jörg Bodanowitz nur „gut eine drittel Monatsausgabe“. Damit liege man „weit unter dem Durchschnitt“, sagte er dem Tagesspiegel. Das Mittel aller Kassen beträgt eine Monatsausgabe. Und was hinzukommt: Bis zur gesetzlich vorgeschriebenen Mindestrücklage von 0,25 Prozent der monatlichen Ausgaben ist es für die drittgrößte gesetzliche Kasse auch nicht mehr weit.
Für 2020 bleiben die Zusatzbeiträge noch stabil
„Für das Jahr 2020 wird der Zusatzbeitrag der TK vor dem Hintergrund des gesetzlich vorgeschriebenen Rücklagenabbaus auf keinen Fall steigen“, sagte TK-Vorstandschef Jens Baas dem Tagesspiegel. Für die knapp 10,5 Millionen Mitglieder der größten gesetzlichen Kasse bleibt es damit – vorbehaltlich der Entscheidung ihres Verwaltungsrates am 20. Dezember – wohl bei den bisherigen 0,7 Prozent.
Allerdings wollen nach aktuellem Stand auch finanzschwächere Ersatzkassen, zu denen neben DAK und KKH auch die Barmer gehört, ihre Zusatzbeiträge (DAK: 1,5 Prozent, KKH: 1,5 Prozent, Barmer: 1,1 Prozent) nicht erhöhen.
Stattdessen redet man in ihrem Dachverband VdEK über engeres Zusammenrücken – und gegenseitige Finanzhilfen. Man beabsichtige auf Verbandsebene Vereinbarungen nach Paragraf 256b SGB V, bestätigte Verbandssprecherin Michaela Gottfried dem Tagesspiegel. Danach könnten „Krankenkassen mit anderen Kassen derselben Art Verträge zur Stärkung deren Wettbewerbsfähigkeit schließen“.
Ersatzkassen reden schon über gegenseitige Finanzhilfe
Dem Vernehmen nach geht es dabei um die Stützung von zwei der vier größten Ersatzkassen mit knapp 7,4 Millionen Versicherten. Allerdings gebe es für solche Hilfen keine Verpflichtung, betonte die Sprecherin. Sie sei freiwillig.
Gleichzeitig klagt sie über „Wettbewerbsverzerrungen“ und eine Benachteiligung von Ersatz-, Betriebs- und Innungskrankenkassen durch Fehlsteuerungen beim gegenseitigen Risikostrukturausgleich (RSA). Man erwarte jetzt von der Politik, „endlich wieder faire Wettbewerbsbedingungen in der GKV herzustellen“.
Der Vorwurf zielt auf die Allgemeinen Ortskrankenkassen, die aus Sicht ihrer Konkurrenz beim RSA bisher erheblich bevorteilt werden. Spahn plant für 2020 zwar eine Weiterentwicklung dieses Ausgleichs, die Details sind allerdings noch heftig umstritten. Fakt ist, dass es den meisten AOKen finanziell weit besser geht als ihren Mitbewerbern, obwohl sie teilweise viel höhere Verwaltungskosten haben.
Die AOK Sachsen-Anhalt etwa verfügt über eine Rekord-Rücklage von 3,34 Monatsausgaben – trotz ihres im Vergleich extrem niedrigen Zusatzbeitrags von gerade mal 0,3 Prozent. Nur drei der elf Kassen im AOK-Verbund (die Bayern, die AOK Nordost und die AOK Rheinland/Hamburg) haben weniger als eine Monatsausgabe in petto.
Ab 2021 drohen Beitragserhöhungen auf breiter Front
Fakt ist auch, dass man sich in der AOK-Familie in der Vergangenheit immer wieder und ohne große Aufregung gegenseitig unter die Arme gegriffen hat. Doch anders als die Ersatzkassen arbeiten die Ortskrankenkassen regional abgegrenzt, sie stehen untereinander nicht im Wettbewerb. Insofern hätte die gegenseitige Stützung im VdEK eine andere Dimension.
Dahinter steckt die Sorge, dass Finanzhilfen mit Blick auf die gemeinsame Haftung für ins Trudeln geratene Kassen womöglich das kleinere Übel wären. Und die Hoffnung, dass sie vielleicht ja doch nur übergangsweise nötig sind.
Denn erstens wird im übernächsten Jahr wohl endlich die heiß ersehnte RSA-Reform wirksam. Und zweitens wird nach dem politisch gewollten Rücklagenabbau auch keine Kasse mehr Scheu haben, ihren Mitgliedern deutlich mehr abzuverlangen. Ab 2021, darin sind sich Branchenkenner einig, werde es Beitragserhöhungen „auf breiter Front“ geben.