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Jetzt seid ihr dran! Unter dieses Motto stellen die Gewerkschaften die diesjährige Tarifauseinandersetzung im öffentlichen Dienst. Für die rund 500 000 Beschäftigten in den kommunalen Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen wird eine Sonderregelung angestrebt, unter anderem will Verdi höhere Zuschläge für Samstagsarbeit.
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Tarifkonflikt im öffentlichen Dienst: Den Bogen nicht überspannen

Die Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst bleiben auch in der zweiten Runde ohne Ergebnis. Corona bestimmt die Rahmenbedingungen.

Mit Corona kalkulieren beide Seiten. Die Gewerkschaften wollen für die Helden der Arbeit, die im Lockdown „den Laden Staat am Laufen gehalten haben“, 4,8 Prozent mehr Geld. Zweieinhalb Millionen Beschäftigte im öffentlichen Dienst hätten „mehr verdient als warme Worte und einen Applaus vom Balkon“. Die Arbeitgeber wiederum argumentieren mit der Rezession („die Kassen sind leer“) und vertrauen auf die Stimmung im Lande: Wenn ganze Branchen am Boden liegen und Hunderttausende Angst um den Arbeitsplatz haben, dann seien hohe Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst nicht zu vermitteln. Schon gar nicht den Arbeitnehmern und Selbstständigen, die unter Corona leiden und mit ihren Steuern die Einkommen der Staatsbediensteten finanzieren.

Neue Köpfe auf beiden Seiten

Am Sonnabend haben sich die Tarifparteien in Potsdam zur zweiten Tarifrunde getroffen. An der Spitze der Gewerkschaften verhandelt erstmals Verdi-Chef Frank Werneke; aufseiten der Arbeitgeber führen Ulrich Mädge in seiner Funktion als Präsident der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) und Innenminister Horst Seehofer für den Bund die Verhandlungen. Es geht um Milliarden und deshalb ist das Tarifgeschäft zäh. Ein Prozent höhere Einkommen kostet die Kommunen gut eine Milliarde und den Bund inklusive Beamte 270 Millionen Euro. Wer sich zu früh bewegt, hat schnell verloren, weshalb die Arbeitgeber in der Regel erst in der dritten und zumeist letzten Tarifrunde ein Angebot machen. Die ist für den 22. und 23. Oktober terminiert. „Ich hoffe, dass wir dieses Wochenende ein gutes Stück vorankommen“, sagte VKA- Hauptgeschäftsführer Niklas Benrath dem Tagesspiegel. „Das wird aber schwierig aufgrund der vielen Themen, die auf dem Tisch liegen.“

Sonderboni für Krankenhäuser angestrebt

Auf dem Tisch des Kongresshotels am Templiner See in Potsdam liegt nicht allein die Forderung nach 4,8 Prozent mehr Geld, mindestens aber 150 Euro monatlich. Die Ausbildungsvergütungen sollen nach dem Willen der Gewerkschaften, wozu neben Verdi und dem Beamtenbund auch die GEW (für die Lehrer) und die GdP (für die Polizisten) gehören, um 100 Euro pro Monat steigen. Die wöchentliche Arbeitszeit im Osten soll von 40 auf 39 Stunden sinken und dadurch Westniveau erreichen. Zusätzliche freie Tage hätten die Gewerkschaften gerne für besonders belastete Beschäftigte, und für die kommunalen Krankenhäuser und Altenpflegeeinrichtungen mit insgesamt knapp 500 000 Beschäftigten will Verdi an einem speziellen Verhandlungstisch Sonderregelungen durchsetzen: 20 Prozent Zuschlag für Samstagsdienste und Bezahlung der gesetzlich vorgeschriebenen Pausenzeit bei Wechselschicht im Krankenhaus.

Frank Werneke ist seit einem Jahr Vorsitzender von Verdi. Er führt zum ersten Mal die Verhandlungskommission der Gewerkschaften.
Frank Werneke ist seit einem Jahr Vorsitzender von Verdi. Er führt zum ersten Mal die Verhandlungskommission der Gewerkschaften.
© dpa

Diesem Forderungskatalog der Arbeitnehmervertreter stehen aufseiten der Arbeitgeber die Wünsche nach einem Tarifabschlag für die schwächelnden Sparkassen, ein flexibler Umgang mit Leistungsanreizen und die Möglichkeit der Entgeltumwandlung gegenüber – etwa ein elektrisches Dienstfahrrad statt Weihnachtsgeld. „Die Beschäftigten wollen das und wir wollen den öffentlichen Dienst attraktiv halten“, begründet VKA-Chef Benrath die Idee mit dem Fahrrad.

Ein Viertel ist älter als 55 Jahre

Das wollen die Gewerkschaften auch – und begründen damit die Tarifforderung. Die Nachwuchsprobleme sind groß, und mehr als ein Viertel der Beschäftigten ist älter als 55 Jahre. Junge Leute kommen aber nur, wenn das Geld stimmt – so argumentiert Verdi seit mindestens zehn Jahren. Vor allem wegen der Umstellung vom verstaubten BAT (Bundesangestelltentarif) auf den TVÖD (Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst) im Jahr 2005 und den damals damit zusammenhängenden Nullrunden sind die Tarifeinkommen der Staatsbeschäftigten in den vergangenen 20 Jahren um knapp vier Prozent hinter der Gesamtwirtschaft zurückgeblieben. Der Abstand zur Metallindustrie beträgt sogar 15 Prozent.

Keine Verschiebung vereinbart

Nach dem Vorbild der Metaller, die sich im Frühjahr wegen Corona auf eine Verschiebung der Tarifrunde auf Anfang 2021 verständigt hatten, wollte das auch Verdi-Chef Werneke mit seinem VKA-Partner Mägde erreichen. Allerdings in Verbindung mit einer fetten Kröte, die die Arbeitgeber keineswegs zu schlucken bereit waren. Werneke forderte eine Einmalzahlung von 1500 Euro für sechs Monate, was nach Berechnungen der Arbeitgeber 3,1 Milliarden Euro gekostet hätte. „Eine Verschiebung der Tarifrunde zu den Bedingungen, die sich Verdi vorgestellt hat, kam für uns überhaupt nicht infrage“, sagt Benrath.

Neuer Tarifvertrag bis 2023?

Die Arbeitgeber argumentieren so wie immer: Die öffentlichen Kassen sind leer. Die Forderungen der Gewerkschaften sind überzogen. Wer nichts hat, der kann auch nichts verteilen. „Voraussichtlich bis 2023 werden die Kommunen unter den Auswirkungen der Coronakrise leiden“, sagt Benrath, weshalb die VKA auch gerne einen Tarifvertrag hätte, der bis 2023 gültig ist. Langfristige Planungs- und Kalkulationssicherheit ist den Arbeitgebern viel wert.

Ulrich Mädge, Oberbürgermeister von Lüneburg, steht an der Spitze der kommunalen Arbeitgeberverbände.
Ulrich Mädge, Oberbürgermeister von Lüneburg, steht an der Spitze der kommunalen Arbeitgeberverbände.
© dpa

Obgleich die Gewerkschaften ihre Forderungen für eine Tariflaufzeit von zwölf Monaten aufgestellt haben, ist über die Vertragslaufzeit am ehesten ein Kompromiss möglich. Wie beim letzten Mal im Frühjahr 2018, als man sich auf insgesamt 7,5 Prozent in drei Stufen über 30 Monate bis 2020 verständigte.

Streiks sind schwierig

„Wir sind bereit, in diesen schwierigen Zeiten konstruktiv zu verhandeln“, sagt Benrath im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Floskeln gehören zu den Tarifritualen. Und doch ist wegen Corona diesmal vieles anders. Zwischen der zweiten und der entscheidenden dritten Tarifrunde mobilisieren die Gewerkschaften normalerweise ihre Mitglieder, die sich bei Betriebs- oder Personalversammlungen in Stimmung bringen, mit Warnstreiks die Arbeitgeber ärgern und dabei mit möglichst geringem Aufwand größtmöglichen wirtschaftlichen Schaden anrichten. Das erhöht die Kompromissbereitschaft der Arbeitgeber, die insbesondere bei der heterogenen VKA nicht so einfach zu erreichen ist. Aber mit welchen Truppen soll Verdi aufmarschieren? Das Flughafenpersonal war immer vorne dabei, wenn zum Warnstreik gerufen wurde, doch in diesem Jahr sind viele in Kurzarbeit. Und Kitas? Die geplagten Eltern sind froh, endlich wieder im Regelbetrieb ihre Kinder untergebracht zu haben. Und dann kommt Verdi und ruft die Erzieherinnen zum Streik? Schwierig. Das gilt auch für die Krankenhäuser, die sich auf einen Corona-Herbst einstellen.

24 Berliner Betriebe betroffen

„Streiks in einer so frühen Phase der Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst halten wir für nicht vertretbar“, moserte Claudia Pfeiffer, die Geschäftsführerin der kommunalen Berliner Arbeitgeber, als Verdi in der vergangenen Woche ein paar Gewerkschaftsmitglieder in Vivantes-Kliniken zu einem Ausstand animiert hatte. „Streiks sollten – insbesondere in einem so sensiblen Bereich wie in den Krankenhäusern – immer das letzte Mittel sein“, meinte Pfeiffer. Was soll sie auch sonst sagen. Die BSR und die Wasserbetriebe, die Bäder-Betriebe, die Charité und Vivantes – alles in allem fallen 24 Betriebe mit gut 30 000 Beschäftigten in Berlin unter den TVÖD. „Wir können nur hoffen, dass die Gewerkschaften in diesen schwierigen Zeiten den Bogen nicht überspannen“, sagt VKA-Chef Benrath. Die Einschätzung ist immer richtig – und gilt für beide Tarifparteien.

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