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Beladen. Am schlimmsten geht es auch in Chicago denen, die schon vor der Krise wenig hatten.
© Getty Images

Verelendung: Das Armutszeugnis der USA

Kein Job, kein Geld, keine Wohnung. Die Zahl derer in den USA, die zu wenig haben um zu leben, ist hoch wie nie. Hilfsorganisationen kümmern sich – aber Besserung ist nicht in Sicht. Ein Abend in den Straßen von Chicago.

Bevor der Bus kommt, sind die Hungrigen schon da. Neben dem Parkplatz einer Drive-Through-Bank an einer Kreuzung im Norden Chicagos haben sich ein gutes Dutzend Jugendliche versammelt. Obwohl es im September abends bereits ziemlich kühl wird auf den Straßen, tragen viele von ihnen nicht mehr als ein T-Shirt. Die Stimmung ist aufgekratzt. Kreischende Mädchen fallen Bekannten um den Hals, ein paar Transvestiten mit kurzen Röcken stöckeln vorbei, Jungen begrüßen sich mit Händeabklatschen. Ein paar junge Männer knutschen, die Körper gegen einen Zaun gepresst, im orangefarbenen Licht der Straßenlaternen. „Boystown“ heißt der Bezirk halb offiziell – es ist nicht schwer zu erraten warum.

Zwei Polizisten auf Fahrrädern stehen auf dem Parkplatz und beobachten das Geschehen. Nicht wenigen Anwohnern sind die jungen Obdachlosen suspekt, die hier zweimal in der Woche mit dem Nötigsten versorgt werden: Zahnbürsten, Socken, Shampoo, Kondome und Essen.

Geschätzte 3,5 Millionen Obdachlose gibt es in den USA. In Chicago sind es vielleicht 40 000, darunter etwa 10 000 Jugendliche. Sie sind nur die Spitze des Eisberges. Die Anzahl derer, die von dem, was sie haben, nicht leben können und Hilfe brauchen, geht im ganzen Land weit in die Millionen. Mitte September veröffentlichte die US-Regierung die neuesten Daten zur Armut. Demnach gelten rund 46,2 Millionen Amerikaner als arm. Das sind so viele wie noch nie. Die Quote von 15,1 Prozent ist die höchste seit 1993 in dem Land mit der größten Volkswirtschaft der Welt. Seit dem Ausbruch der weltweiten Finanzkrise im Oktober 2008 ist die Anzahl der Empfänger von Essensmarken um 70 Prozent gestiegen.

Es ist kurz nach 20.30 Uhr, als der blaue Dodge-Lieferwagen der Hilfsorganisation The Night Ministry heranrollt und neben der Lieferzufahrt eines Shoppingcenters hält. Ehrenamtliche Helfer bauen Klapptische auf, die Hungrigen stellen sich an. Ordentlich. Einer hinter dem anderen. Keiner drängelt.

Auch Susanah Perez steht in der Schlange, um ein paar Nudeln mit Brokkoli und ein Sandwich mitzunehmen. Gestiftet hat das Essen eine Kirche. Die 25-Jährige mit dem runden Gesicht, die hier alle nur Peanut Butter nennen, hat die karierte Flanelljacke hoch geschlossen. Darunter hängt ein blaues T-Shirt heraus. Ihre schwarzen Haare hat sie mit einer Spange nach oben gesteckt, neben ihrem rechten Mundwinkel steckt ein kugelförmiges Piercing. Hinter ihr auf dem Parkplatz spielen ein paar Jungen Gitarre. Die wollen demnächst auf einen Zug aufspringen, sagen sie, um den Winter in Kalifornien zu verbringen. Ein junger Rabbi mit langem Bart, der hier vor Ort als Seelsorger dabei ist, jongliert mit ein paar Bällen.

„Ich komme hierher, weil ich es alleine nicht schaffe“, sagt Susanah Perez. Sie spricht mit hartem spanischen Akzent. „Vor der Krise ging es noch, aber jetzt …“ Damals hatte sie einen Job bei einer Burgerkette. Nichts Tolles, aber sie kam über die Runden, sagt sie. Dann brach die Wirtschaft zusammen, der Job war weg, und auch der Vater ihrer heute neunjährigen Tochter verließ sie. Die Frau verlor den Boden unter den Füßen. „Zwei Jahre hatte ich keine Wohnung“, sagt sie.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie tief die Krise wirklich greift.

Susanah Perez zog mit ihrer Tochter von Obdachlosenunterkunft zu Obdachlosenunterkunft, schlief bei Freunden auf dem Sofa, wenn es sich einrichten ließ. Ihre Eltern konnten nicht helfen. „Die leben in Puerto Rico“, sagt sie. „Aber was soll ich da? Da ist es ja noch schlimmer als hier.“

Amy Terpstra nickt, als sie die Geschichte hört. „Theoretisch mag die Krise seit 2009 vorbei sein“, sagt die stellvertretende Direktorin der Forschungsabteilung der Heartland Alliance, einer Chicagoer Organisation, die sich seit dem Jahr 1888 um die Belange von Bedürftigen kümmert. Tatsächlich seien ihre Folgen aber immer noch zu spüren. Mehr noch: „Die Zahl der Menschen, die von dem was sie verdienen, nicht leben können und auf Unterstützung angewiesen sind, nimmt zu.“

Die blonde Frau sitzt in ihrem Büro in Downtown Chicago, braune Wände, grauer Teppich, vor sich die aktuellen Zahlen der Regierung. Am schlimmsten habe die Krise die erwischt, die eh schon wenig hatten, sagt sie. Der Grund ist einfach: Sie waren die Ersten, die gefeuert wurden, die Ersten, deren Ersparnisse aufgebraucht waren. Jetzt wird für sie jede Reparatur, jeder Notfall zur existenzbedrohenden Krise. Außerdem waren die Geringverdiener die Ersten, denen bereits geringe Kürzungen der Arbeitszeit finanziell das Genick brachen. Was sie in Chicago beobachteten, sei keine Ausnahme, sagt Amy Terpstra. Gleiches passiere momentan in fast allen großen Städten des Landes, sagt sie. Und mehr und mehr wird es auch Präsident Barack Obama angelastet.

Als der noch angehender Jurist war, hatte er unweit von Amy Terpstras Büro einen Job in der Chicagoer South Side, wo er die sozialen Folgen des Niedergangs der Industrieregion aufzufangen versuchte und den Bedürftigen als eine Art freiwilliger Sozialarbeiter Hilfe zur Selbstorganisation anbot. Für ihn war dies eine zunächst frustrierende Erfahrung. Denn jede der Bevölkerungsgruppen hatte eine eigene Kirche, eigene Wohlfahrtsorganisationen. Als Gemeinschaft aber empfanden sie sich nicht. Obamas Developing Communities Project wollte das ändern. Es stand am Beginn seiner Überzeugung, dass Amerika seine Probleme nur als Gemeinschaft lösen könne. Heute, 26 Jahre später, Obama sitzt im Weißen Haus, geht es den Menschen schlechter denn je.

Grund zum Optimismus sieht Amy Terpstra wenig. „Derzeit gibt es für drei von vier Arbeitssuchenden keinen Job“, sagt sie. Viele Amerikaner, die mit der Überzeugung aufgewachsen seien, dass wer sich anstrengt, auch etwas erreichen kann, habe das tief in ihrem Selbstverständnis erschüttert. Sie blättert in ihren Statistiken. „Die Langzeitarbeitslosigkeit unter den Arbeitslosen lag 2007 bei 17 Prozent, heute sind es 44“, referiert sie. Das wird sich auf absehbare Zeit nicht ändern. Auch Präsident Barack Obamas jüngst vorgestellter Jobplan werde kaum verhindern können, dass viele Arbeitnehmer sich derzeit schlicht weigerten, Arbeitslose einzustellen.

In manchen Stellenausschreibungen ist derzeit zu lesen, dass Arbeitslose sich gar nicht erst bewerben brauchen. „Wenn jemand ein paar Monate ohne Job war, fürchten die Arbeitgeber, dass er den Anschluss verloren habe und das Einarbeiten zu lange dauert“, sagt Terpstra.

Erschwerend für das Armutsproblem kommt noch hinzu, dass viele der Jobs, die noch zu haben sind, schlecht bezahlt werden. „Die Industriejobs, die man früher auch bekommen konnte, wenn man nur einen Highschoolabschluss vorweisen konnte, gibt es nicht mehr“, sagt sie. Die Industrie sei abgewandert, stattdessen gebe es jetzt Niedriglohnjobs in der Dienstleistungsbranche – und um die konkurrierten inzwischen Ungelernte mit arbeitslosen Collegeabsolventen.

Susanah Perez kennt das Problem. Dank den Mitarbeitern des Night Ministry hat sie inzwischen zwar eine Wohnung gefunden, aber noch keine richtige Arbeit. „Es gibt zu viele, die suchen und gegen die meisten habe ich keine Chance“, sagt sie. Derzeit jobbt sie für eine lokale spanischsprachige Hilfsorganisation und macht Gesundheitsaufklärung. „Vida/Sida“ heißt die Einrichtung. Obwohl sie 40 Stunden in der Woche arbeitet, verdient sie nicht mehr als 1200 Dollar im Monat. Mehr kann ihr die Aidshilfe-Organisation nicht zahlen. Die 14 400 Dollar, die sie im Jahr verdient, liegen nur 180 Dollar über der für eine Mutter mit Kind festgelegten Armutsgrenze. Um allein für sich und ihre Tochter in einer Stadt wie Chicago gut auskommen zu können, müsste sie mehr als doppelt so viel verdienen, hat die Heartland Alliance ausgerechnet.

Das kostenlose Abendessen verschaffe ihr da etwas finanzielle Erleichterung, sagt Susanah Perez. Die städtischen Essensausgabestellen kann sie nicht besuchen, weil die nur nachmittags geöffnet haben, wenn sie arbeiten muss. Wenn sie hier am Bus isst und nicht zu Hause, spart sie ein paar Dollar, sagt sie. Geld, das sie für ihre Tochter braucht. Doch auch so muss sie sich häufig entscheiden, ob sie eine Monatskarte für den Bus oder Waschzeug kauft. Ob gerade Kinderschuhe wichtiger sind oder Schulhefte. Auf die Frage, ob sie versichert ist, antwortet sie mit Lachen. Es klingt bitter.

Für die Helfer wird es immer schwerer. Seite 3.

Für viele Arme ist das Leben ein ständiges Entweder-Oder, heißt es in der Night-Ministry-Zentrale. Präsident Paul Hamann sitzt dort in seinem Büro. Runder Körper, rundes Gesicht, runder Bart um den Mund. Nur seine Brille ist eckig. In einem Schirmständer steckt eine Regenbogenflagge, auf einem einfachen Plastiktisch in Holzoptik stapelt sich Papier. Ein alter Bürorechner summt.

„In den vergangenen zweieinhalb Jahren ist die Nachfrage nach unseren Gesundheitsangeboten um ein Drittel gestiegen“, sagt er. Besonders der Anteil der Familien unter den rund 6000 Menschen, die ihr Angebot nutzen, habe zugenommen. Viele haben zwar noch ein Dach über dem Kopf, aber keinen Job mehr oder keinen, von dem sie leben können und müssen abwägen, ob sie Miete, Essen oder Versicherung bezahlen. Die Krankenversicherung sei dann meist das Erste, was Leute sich sparen.

Die Krise erschwert auch Hamans Arbeit. Nicht nur wegen der steigenden Nachfrage an medizinischen Leistungen, sondern auch, weil es schwerer werde Geld aufzutreiben. „Wegen der teils desolaten Haushaltslage und der Schuldenkrise streicht die Regierung zum Teil massiv Fürsorgemaßnahmen zusammen“, sagt er. Davon abgesehen, dass dadurch wieder neue Arbeitslose entstehen, weil allein im Bundesstaat Illinois zigtausend Jobs direkt und indirekt an der Fürsorge hängen, bekämen viele Wohltätigkeitsorganisationen jetzt finanzielle Probleme, weil sie bisher einen Großteil ihres Geldes vom Staat bezogen. Auch sein Unternehmen habe 2010 ein Defizit von 300 000 Dollar verbucht.

„Damit stehen wir allerdings noch gut da“, sagt Hamann, mehrere kleinere Hilfsorganisationen hätten schließen müssen. Dementsprechend nüchtern fällt seine Definition von Erfolg aus: „Wir sind nicht dazu da, um die Armut abzuschaffen“, sagt er. „Sondern dafür, für die Armen da zu sein, so lange es Armut gibt.“ Er sei deshalb schon zufrieden, wenn er abends wisse, dass sie morgens noch in der Lage seien ein paar belegte Brote zu verteilen.

Von den 200 Sandwichs, die an der Kreuzung in „Boystown“ verteilt wurden, sind um 21.30 Uhr nur noch ein paar übrig. Die Schlange hat sich aufgelöst. „Dass Essen übrig bleibt, ist selten“, sagt einer der freiwilligen Helfer, die nun langsam zusammenpacken. Die Jungen mit der Gitarre spielen noch, als die alten Männer mit den Plastiktüten schon weiterziehen.

Susanah Perez will noch ein bisschen bleiben. Sie will sich umhören, ob es nicht jemanden gibt, der sich vielleicht eine Wohnung teilen will. Im kommenden Jahr, hat ihr Arbeitgeber angekündigt, wird er ihr ein paar Stunden streichen müssen. Es ist nicht genug Geld da, um sie weiter voll zu beschäftigen. Was sie dann macht? Susanah Perez zuckt mit den Schultern.

Dem Rabbi fällt einer seiner Bälle herunter und kullert in den Rinnstein.

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