Obamas Chicago: Back to the roots
Im armen Süden von Chicago begann Barack Obama vor 25 Jahren seine politische Arbeit. Sie mögen ihn dort immer noch. Aber Enttäuschung schwingt mit.
Gott hat Obama geschlagen. Statistisch nachweisbar. Vor ein paar Wochen veröffentlichte der Sender CNN eine Umfrage, wonach 52 Prozent der Amerikaner zufrieden sind mit der Arbeit Gottes. Weil Präsident Barack Obama in Umfragen deutlich schlechter abschnitt, las sich das auf dem Bildschirm dann folgendermaßen: Gott hängt Obama ab.
Journalistisch mag man solche Umfragen bestenfalls fragwürdig finden. Die Schlagzeile macht dennoch deutlich: Ein Volk ist enttäuscht von seinem „schwarzen Messias“, wie Obama vor noch nicht allzu langer Zeit genannt wurde.
Seit drei Jahren regiert er nun. Von der Euphorie der ersten Tage ist wenig geblieben. Die Obama-Stoßstangenaufkleber sind weniger geworden, genau wie die Obama T-Shirts auf der Straße. Seine Umfragewerte liegen auf einem historischen Tiefstand. Anfang September erklärten nur noch 15 Prozent der Amerikaner, seine Politik in Gänze zu unterstützen. So wenige wie noch nie. Die Krise mag ihren Teil dazu beigetragen haben, sein als zu zaghaft empfundener Führungsstil ebenso. Selbst Anhänger äußern Kritik. Um zu erfahren warum, woher die Enttäuschung rührt, geht man am besten dorthin, wo alles begann.
Einer der gefährlichsten Stadtteile Chicagos sieht zunächst einmal aus wie eine gepflegte Vorortsiedlung. Der Rasen in Altgeld Gardens ist grün. Es liegt kein Müll auf den Straßen. Zwischen den zweistöckigen Backsteinhäusern sitzen ein paar Menschen unter Bäumen und unterhalten sich. Ein Mädchen mit Zöpfen fährt auf einem bunten Kinderrad vorbei.
Erst auf den zweiten Blick fällt auf, dass einige der Fenster in den eigentümlich gedrungen wirkenden Häusern vernagelt sind, dass keine Autos auf den Straßen stehen, dass die gesamte Wohnanlage in ihrer reißbretthaften Gleichförmigkeit mehr an eine Kaserne denn eine idyllische Vorstadt erinnert – und dass eine gereizte Spannung in der Luft liegt.
Reverend Alvin Love, 56 Jahre, schwarzer Anzug, massive Statur, dichter Schnauzbart steht in der offenen Tür seines Wagens und sieht sich um. Ein junger Mann mit mürrischem Gesicht und einer Plastiktüte schlurft heran. „Vielleicht sollten wir jetzt fahren“, sagt Love mit der tiefen Stimme eines Soulsängers. „Nachts will man hier nicht sein“, sagt er, während er der Zufahrt der Wohnanlage entgegen rollt. „Auch die Feuerwehr will dann nicht hierher ausrücken.“ Armut, Hoffnungslosigkeit und Isolation ergeben eine explosive Mischung, sagt der Pfarrer der Lilydale First Baptist Church, ein paar Blocks weiter nördlich.
Altgeld Gardens ist der südlichste Bezirk Chicagos, 130. bis 134. Straße – dahinter hört die Stadt auf. 1945 in einem Industriegebiet erbaut, um afroamerikanischen Kriegsveteranen eine Heimat zu bieten, ist es das älteste soziale Wohnungsbau-Projekt der Vereinigten Staaten, gute 40 Minuten Busfahrt von der südlichsten S-Bahnstation und knapp anderthalb Stunden entfernt von den Wolkenkratzern in Downtown. Der erste Waschsalon in der Siedlung öffnete vor drei Jahren. Davor mussten die Leute hier, von denen kaum jemand eine eigene Waschmaschine besitzt, mit dem Bus zum Wäschewaschen fahren.
Berühmt ist Altgeld Gardens aber vor allem, weil hier ein gewisser Barack Obama seine politische Karriere begann. 1985 kehrte der damals 23-jährige Angestellte einer kleinen New Yorker Wirtschaftsberatungsfirma den Rücken, um als Community Organizer – eine Art freiwilliger Sozialarbeiter – für einen Zusammenschluss von ursprünglich acht katholischen Gemeinden im Süden Chicagos anzuheuern. Aus der Organisation ging 1986 das Development Communities Project (DCP) hervor, als deren Direktor Obama bis 1988 tätig war. Diesen Herbst feiert die Wohltätigkeitsorganisation ihren 25. Geburtstag.
Das Programm des jungen Obamas war kämpferisch. Er kam nach Chicago, um „schwarze Leute zu organisieren. Auf Graswurzelebene. Um zu verändern.“, wie er in seinem Buch „Ein amerikanischer Traum. Die Geschichte meiner Familie“ schreibt. Veränderung. Change! Ein Schlagwort, mit dem er auch später in den Wahlkampf ziehen und eine Nation elektrisieren sollte. Sein Slogan „Yes we can“ gab Hoffnung auf einen Neubeginn.
Ein Vergleich von Obamas Erinnerungen mit der aktuellen Lage macht allerdings skeptisch, wie viel Wandel es im Süden Chicagos tatsächlich gegeben hat: „2000 Apartments, angeordnet in Reihen von zweistöckigen Ziegelbauten mit armeegrünen Türen und schmierigen funktionslosen Fensterläden“, erinnert er sich an sein Altgeld. So sieht es immer noch aus. „Im Osten, auf der anderen Seite des Expressways, befand sich die Lake Calumet Mülldeponie, die größte im Mittleren Westen. Und im Norden, direkt auf der anderen Straßenseite, war die Kläranlage des Metropolitan Sanitary Districts.“ Obama erinnert sich in seinen Memoiren an die seltsamen farblosen Fische mit Knoten hinter den Kiemen, die im Calumet Fluss schwammen, und den Gestank der nahen Abwasseranlage. Kurz: „Eine Müllhalde – und ein Ort, um die armen Schwarzen unterzubringen.“
Die Stahlwerke in der Gegend haben dicht gemacht. Die Arbeitslosenquote liegt immer noch regelmäßig über 30 Prozent. Der Fluss ist immer noch nicht sauber. Dank Obama gibt es heute zwar keinen Asbest mehr in den Wohnungen – das war eines der Projekte, die er in seiner Zeit angestoßen hat – doch am Grundproblem hat sich nichts geändert: Altgeld ist immer noch ein isolierter Bezirk, geplagt von Armut und Gewalt und mitten in einer Region, die laut Love die höchste Brustkrebs-Rate im ganzen Staat Illinois hat. Ein Erbe der Müllkippen. Wer wegziehen kann, der tut das.
„Fraglos“, sagt Love, als er wenig später in einem kleinen Konferenzraum in seiner Kirche sitzt, „es gibt nach wie vor Probleme in weiten Gebieten Süd-Chicagos, zum Teil die selben wie vor 25 Jahren.“ Insgesamt bleibe das hauptsächlich schwarze Süd-Chicago signifikant ärmer als der Norden. Loves Blick wandert vom roten Teppich über die getäfelten Wände und landet bei den drei schwarzen Roben, die auf Bügeln in einer Ecke des Raumes hängen. An das große Fenster prasselt der Regen. Einzig die Gewichtung der Probleme habe sich vielleicht ein wenig verschoben, sagt er. „Früher ging es mehr um Sicherheit, heute mehr um Arbeitslosigkeit.“
Trotzdem glaubt er, dass Obama etwas bewegt hat: Als Community Organizer und als Präsident. Love, der sich an der Asbestbeseitigung in Altgeld Gardens beteiligte, nachdem Obama sich 1988 zum Jurastudium nach Harvard verabschiedete, ist der Meinung, dass Obamas Arbeit den Süden geprägt hat. „Er war es, der die verschiedenen Gemeinden zusammenbrachte“, sagt Love. Früher habe er häufig erlebt, dass Leute sich in den Kirchen lauthals beschwerten und dann nach Hause gingen, ohne das etwas passierte. „Obama brachte den Leuten bei, wie man die Beschwerden zu tatsächlich vortragbaren Anliegen macht.“ Diese Leistung werde ihn überleben.
Vielleicht stimmt das sogar. Auch 25 Jahre nach Obama ist das Development Communities Project, dem Obama einst vorstand, noch aktiv. Das drängendste Projekt derzeit ist die Verlängerung der Red Line nach Süden. Seit nunmehr 40 Jahren ist an der 95. Straße „temporäre Endhaltestelle“ der Metro. Südlich der 95. Straße leben jedoch noch gut eine Million Menschen, sagt Love. Nur ein Drittel von ihnen besitzt ein Auto. Ohne Bahnanbindung sind sie abgeschnitten.
Obama hat das Projekt in seiner Zeit als State Senator zwischen 1997 und 2004 angestoßen. 2016 soll die Strecke fertig gebaut sein. Auf der Trasse in der Mitte der Stadtautobahn kann man sehen, wie die Bagger rollen. Kontrollaufsicht über das 700-Millionen-Dollar-Projekt hat die DCP. Darüber hinaus finanziert sie mit ihrem schmalen, aus Spenden und von Kirchen stammenden jährlichen Etat von 500000 Dollar, unter anderem Drogenpräventionsprogramme oder Sommercamps für Kinder.
So optimistisch Love auch ist, auf der Straße klingt das anders. Zum Beispiel aus den Mündern von Tim Plunkett und Sierra Dolcon, beide 19 Jahr alt, beide in Chicagos South Side zu Hause. Sie sind gerade an der 95. Straße aus der U-Bahn gestiegen und nun weiter auf dem Weg nach Hause. Von Obamas Zeit in der South Side haben sie zwar gehört, aber das ist eine Zeit, die unendlich weit weg ist. Sie bedeutet ihnen nichts. Sie kennen Obama nur als Präsidenten. Und über seine Leistung als solcher fällt ihr Urteil hart aus. „Obama hat Veränderung versprochen, aber es verändert sich nichts“, sagt Sierra. Immer noch gebe es zu wenig Jobs, immer noch zu viele Drogen, immer noch zu viele Schießereien. Die Verlängerung der U-Bahn ist ihnen egal. „Was sollen die Leute mit einem kürzeren Weg zur Arbeit, die sie nicht haben?“ Ob sie 2012 für Obamas Wiederwahl stimmen werden? „Das letzte Mal durfte ich noch nicht wählen“, sagt Plunkett und zieht seine Schultern hoch. „Und ob ich das nächste Mal wählen soll, weiß ich nicht. Wozu? Ändert ja doch nichts.“ Sierra nickt.
Andere wollen am liebsten gleich weg. Laure Santana zum Beispiel. Sie arbeitet als Kellnerin in einem mexikanischen Restaurant neben einem Shoppingcenter an der 119. Straße. Die 35-Jährige ist vor zwei Jahren wegen ihres Freundes tief in die South Side gezogen. Seitdem bearbeitet sie ihn, umzuziehen. Sie will zurück nach Indiana. Ihre Kinder schickt sie bereits dorthin zur Schule. „Ich will hier nicht leben“, sagt sie. Ihr, die Wurzeln in Puerto Rico hat, ist die Gegend zu schwarz. „Ich will eine gemischtere Community“, sagt sie.
Auch unter Obamas alten Weggefährten gibt es Menschen, die verstehen, dass die Leute enttäuscht sind. Timuel Black zum Beispiel. Der 92-Jährige mit der dicken verstaubten Brille steht auf dem Hyde Park Boulevard, der die Grenze zwischen den Bezirken Hyde Park und Kenwood markiert. „Mehr North Side gibt es auf der South Side nicht“, sagt er. Was er meint: Hier leben keine Arbeiter oder Arbeitslose, sondern Intellektuelle und Akademiker. Die University of Chicago ist gleich um die Ecke. Hinter dem schmächtigen Timuel Black – blaues Hemd, dunkle Hose, Baseballmütze – erheben sich die gewaltigen Büsche, die Obamas Privathaus umgeben. Ein Polizeiauto und mächtige Betonblöcke versperren die Zufahrt. Nur ein einziger roter Schornstein ist von der Straße aus zu sehen. Zwei Touristen sind enttäuscht, dass man nicht mehr erkennen kann und ziehen weiter.
Timuel Black lebt seit fast 60 Jahren in der South Side. Seine Großeltern waren Sklaven, er wurde Uni-Professor für Soziologie und Geschichte. Sein Lieblingsfach: korrigierte amerikanische Geschichte, sagt er. Er hat Bücher über seine Heimat geschrieben, ihre Geschichte gelehrt. Wenn er mit vorsichtigen Schritten die Straße herunter geht, grüßen ihn die Leute ehrfurchtsvoll mit „Herr Professor“.
Auf die Frage, was die größte Veränderung ist, die sich durch Obama ergeben hat, antwortet er mit einem Witz: „Der Bus fährt nicht mehr, wenn der Präsident zu Hause ist, weil dann die ganze Straße gesperrt wird.“ Black kichert, dann wird er ernst. Die Veränderungen seien in der Tat nicht sehr auffällig, gibt er zu. „Viele Menschen in den armen Bezirken haben deshalb das Gefühl, dass sie nicht partizipieren können“, sagt er. Eine Vielzahl der Menschen in Altgeld werde deshalb das nächste Mal wohl nicht wählen gehen.
Die Enttäuschung habe ihren Ursprung auch in unrealistischen Vorstellungen. „Als Obama Präsident wurde, haben die Menschen im Süden nicht weniger als ein Wunder erwartet.“ Sie dachten, dass Obama in 100 Tagen das Land umkrempelt. Das sei nicht möglich. Allerdings sei auch Obama nicht ganz unschuldig. „Er ist ein guter Amerikaner“, sagt Black. Aber er sei eben auch gerne Präsident und mache deshalb eine Menge Kompromisse.
„Den Oreo-Präsidenten nennen ihn deshalb manche böse“, erzählt Rosellen Brown. Außen schwarz, innen weiß: Wie die gleichnamigen Schokoladenkekse mit weißer Füllung. Die Autorin lebt seit 16 Jahren in Hyde Park. Sie sitzt in ihrer Wohnung mit Blick auf den Lake Michigan, eine Katze auf dem Schoß, ein Regal mit Büchern im Rücken. Sich selbst bezeichnet sie als Obama-Fan. Sie hat ihn gewählt, hat seinen Wahlkampf unterstützt, hat ihn ein paar Mal getroffen. Doch auch in ihren Worten schwingt Enttäuschung mit. „Obama ist einfach zu nett, um ein guter Präsident zu sein“, sagt sie. „Außerdem ist er schlicht nicht so revolutionär, wie wir gedacht haben.“ Bildung, Guantanamo, Immigrationsdebatte: nirgendwo sei man weitergekommen.
Das Problem ist laut Brown, dass Obama als Präsident da weitermacht, wo er als Community Organizer aufgehört hat. „Er glaubt ernsthaft, dass man auch mit Feinden ein aufrichtiges Gespräch führen kann“, sagt sie. „Doch so funktioniert Washington nicht.“ Die daraus entstehenden Kompromisse und die Tatsache, dass Obama sich nicht sofort und energisch wehrt, wenn er angegriffen wird, wie damals, als es hieß, er sei nicht in den USA zur Welt gekommen – all das werde ihm als Schwäche ausgelegt.
Völlig aufgegeben hat sie aber nicht. Trotz aller Enttäuschung. Er sei immer noch ein Hoffnungsträger: Und wenn er sonst nichts erreicht habe, eins habe er geschafft: „Kein Jugendlicher kann sich heute noch vorstellen, dass ein Schwarzer nicht Präsident sein kann.“ Sie hofft, dass seine zweite Amtszeit die Veränderung bringt – oder die Zeit danach.
So denkt auch Reverend Love. „Viele hoffen, dass Obama nach dem Ende seiner Präsidentschaft nach Chicago zurückkehrt“, sagt er. „Und dass er seinen Einfluss für die Stadt und die South Side nutzt.“ Ein starkes Symbol wäre, seine Präsidenten-Bibliothek im Süden der Stadt anzusiedeln. Das Errichten einer solchen ist seit den 50er Jahren Gesetz. Clinton baute seine in Arkansas, Bush Junior die seine in Texas. „Wenn Obama seine in der South Side bauen ließe, würde das zeigen, dass er die Menschen in Chicagos Süden nicht vergessen hat“, sagt Love. Ein Zeichen der Hoffnung. Und vielleicht eine Möglichkeit, die Resignation zu durchbrechen, die Obama in seinen Memoiren beschreibt. Darin berichtet er von einer Diskussion mit seiner Schwester Auma.
„Ich hab nicht viel übrig für Politik“, gesteht sie ihm.
„Warum?“, fragt Obama.
„Ich weiß nicht“, antwortet Auma. „Am Ende sind immer alle enttäuscht.“