zum Hauptinhalt
Foto: Promo
© dpa/Promo

Biontech-Produktionschefin im Interview: „Bis zu einer Milliarde Dosen pro Jahr“

In Marburg wird in hohem Tempo Biontech-Impfstoff hergestellt. Produktionschefin Valeska Schilling über Lieferketten und Qualitätssicherung. Ein Interview.

Valeska Schilling ist seit Oktober für die Produktion des Impfstoffs von Biontech verantwortlich. Die Biologin arbeitetet zuvor bei den Schweizer Pharmakonzernen Novartis und Sandoz.

Frau Schilling, läuft die Produktion des Biontech-Impfstoffs in Marburg jetzt „auf vollen Touren“?
Die Produktion läuft nach Plan.

Was heißt das genau?
Aktuell werden weitere Bereiche in Betrieb genommen, so dass die volle Kapazität von bis zu einer Milliarde Dosen pro Jahr erreicht werden kann. Im ersten Halbjahr 2021 planen wir in Marburg die Produktion von 250 Millionen Dosen.

Biontech hat ein ehemaliges Produktionsgebäude von Novartis übernommen.Warum dieses Gebäude, warum Marburg?
Der Standort Marburg war ideal. Dort konnten die Produktionskapazitäten in kürzester Zeit um ein Vielfaches erhöht werden. Das Team in Marburg hat langjährige Erfahrung in der Herstellung von Vakzinen. Die Produktionsplattformen hier in Mittelhessen überschneiden sich mit den Forschungsschwerpunkten von Biontech. In Marburg wurden traditionell innovative Pharmazeutika produziert. Die Behringwerke widmen sich seit der Gründung 1904 der Entwicklung und Produktion von bahnbrechenden Impfstoffen und Arzneien. Die gesamte Infrastruktur der ehemaligen Behringwerke ist auf die Produktion innovativer Pharmazeutika ausgelegt. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Darauf konnten wir zurückgreifen, das kommt uns zugute.

Welche besonderen Herausforderungen gab es bei der Umrüstung der Anlage?
Als Wirkstoffklasse ist mRNA in diesem Maßstab noch ganz neu. Teil der Umrüstung war es, erst einmal den Prozess in diesem Maßstab kennenzulernen. Darüber hinaus musste das notwendige Equipment an den Standort geholt, installiert und in die entsprechenden Bereiche eingebaut werden. Sehr viele Dokumente mussten angepasst werden, damit der Produktionsprozess zu jeder Zeit überwacht, überprüft und nachgewiesen werden kann. Unsere Beschäftigten mussten für den neuen Prozess geschult werden. All dies haben wir nach Übernahme des Werks im November 2020 bis zum Produktionsbeginn im Februar 2021 in kürzester Zeit umgesetzt.

[Wenn Sie alle aktuellen Entwicklungen zur Coronavirus-Pandemie live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Wie lief die Zusammenarbeit mit den Behörden, gab es besondere Auflagen?
Die Zusammenarbeit mit den Behörden – dem Paul-Ehrlich-Institut und den Regierungspräsidien in Gießen und Darmstadt – war sehr positiv und auch proaktiv. Wir sind sicher, dass die Kooperation in Zukunft ähnlich verlaufen wird. Bei der Vergabe der Termine und der Umsetzung der Inspektionen waren die Behörden höchst flexibel. Trotz des sehr hohen Tempos wurden die notwendigen Verfahren nicht abgekürzt oder wichtige Schritte übersprungen.

Wie hat die Umrüstung der Anlage gekostet und wie lange hat sie gedauert?
Zu den Kosten kann ich nichts sagen. Aber wir konnten nach nur viereinhalb Monaten die erste produzierte Charge mRNA, also den medizinischen Wirkstoff, abfüllen. Notwendige Geräte und Rohmaterialien konnten kurzfristig geliefert werden, auch dank des großen Engagements unserer Dienstleister und Zulieferer. Sie haben verkürzte Lieferzeit möglich gemacht.

Valeska Schilling ist Produktionschefin bei Biontech.
Valeska Schilling ist Produktionschefin bei Biontech.
© Biontech

Haben Sie die für die Produktion notwendigen Expertinnen und Experten schnell finden können?
Wir hatten in Marburg bereits 300 Expertinnen und Experten vor Ort. Viele Beschäftigte haben viele Jahre Erfahrung in der Herstellung qualitativ hochwertiger Pharmazeutika, basierend auf biochemischen Prozessen. Auch die Kolleginnen und Kollegen der Support-Bereiche und insbesondere der Qualitätskontrolle und -sicherung sind sehr erfahren und besitzen ausgeprägte Expertise in der Testung von Impfstoffen. Insgesamt arbeiten 400 Beschäftige am Marburger Standort.

Produziert wird an sieben Tagen zu jeder Zeit. Ist das mit dem aktuellen Personal zu schaffen?
Wir produzieren mit insgesamt 200 Beschäftigen in drei Schichten täglich rund um die Uhr. In den nächsten Wochen und Monaten wird das Team weiter aufgestockt. Die Motivation ist sehr hoch. Jeder im Team ist sich bewusst, dass ein großer Beitrag zur Bekämpfung der Pandemie geleistet wird.

Wo liegen die größten Herausforderungen in der Produktion des Impfstoffs, für den mehr als 50 000 Arbeitsschritte nötig sein sollen.
Die vielen Arbeitsschritte sind notwendig, um die qualitativ hochwertige Produktion des Impfstoffs sicherzustellen. Es gilt die „Gute Herstellpraxis“ – Good Manufacturing Praxis (GMP). Zusätzlich zu den Schritten im Produktionsprozess sind sehr viele Maßnahmen für die korrekte Dokumentation, die Qualitätskontrolle und -sicherung mit einberechnet. Der Prozess muss stets exakten Vorgaben und einem genauen Ablauf folgen. Davon darf nicht abgewichen werden. Nur so kann die Qualität gesichert werden.

[Behalten Sie den Überblick über die Corona-Entwicklung in Ihrem Berliner Kiez. In unseren Tagesspiegel-Bezirksnewslettern berichten wir über die Krise und die Auswirkungen auf Ihre Nachbarschaft. Kostenlos und kompakt: leute.tagesspiegel.de.]

Können Sie die Produktionsschritte kurz umreißen?
Vereinfacht gesagt wird das mRNA-Vakzin in vier Schritten produziert. Zunächst wird die mRNA selbst auf Basis einer DNA-Vorlage in Bioreaktoren hergestellt. Dieser Wirkstoff wird filtriert und konzentriert, damit als Drittes die Formulierung für das eigentliche Medizinprodukt erfolgt. Die mRNA wird mit Lipiden kombiniert, so dass Lipid-Nanopartikel eine Schutzhülle um die mRNA bilden. Auf diese Weise kann die mRNA besser in die Zellen gelangen und eine Immunantwort einleiten, also schützen. Zuletzt wird der Impfstoff erneut filtriert und steril in Fläschchen abgefüllt. Das geschieht nicht in Marburg, sondern bei Partnern im europäischen Netzwerk von Biontech.

Wie lange dauert die Herstellung und wie viel Zeit nimmt die Freigabe in Anspruch?
Die ersten drei Produktionsschritte in Marburg nehmen etwa fünf bis sieben Tage ein. Danach wird der fertige Impfstoff in großen Mengen an unsere Abfüll-Partner verschickt, was einige Tage dauert. Die Freigabe der finalen Charge findet etwa 20 bis 25 Tage nach der initialen Produktion statt. Insgesamt dauert die Herstellung unseres Covid-19-Impfstoffs inklusive Qualitätsprüfungen und Freigaben durch die Behörden vier bis sechs Wochen.

In Corona-Zeiten sind Lieferketten immer wieder ein Thema. Für Ihren Impfstoff werden bis zu 50 Vorprodukte benötigt. Das spricht für eine nicht gerade geringere Anfälligkeit.
Die meisten pharmazeutischen Produkte haben sehr viele einzelne Bestandteile, Vorprodukte und hohen Bedarf an Rohstoffen. Wir haben ein großes, flexibles und starkes Netzwerk an Zulieferern, zu dem unter anderem Merck und Evonik.

Wie stellen Sie sicher, dass alle Vorprodukte ständig nach Bedarf und ohne Unterbrechung geliefert werden?
Vor der kommerziellen Nutzung von mRNA-Impfstoffen wurden etwa Lipide in kleinerem Maßstab für die Verwendung in Laboren hergestellt. Durch die drastisch gestiegene Nachfrage mussten die Kapazitäten der Lieferanten erst einmal angepasst werden. Auch all dies unterliegt den strengen GMP-Richtlinien und den Freigaben durch die Behörden.Die aktive Zusammenarbeit mit unseren Partnern zahlt sich aus, die Fortschritte sind erheblich. Wir glauben, die Versorgung mit Rohstoffen auch weiterhin sicherstellen zu können.

Könnten Sie die Produktion in Marburg noch deutlich ausbauen?
Wir arbeiten kontinuierlich daran, unsere Prozesse noch effizienter zu gestalten und unsere Produktionskapazitäten zu erhöhen. Dies gilt auch für Marburg. Unser Fokus liegt aktuell auf der vollen Inbetriebnahme aller Bereiche, sodass die volle Kapazität noch in diesem Jahr erreicht werden kann. Wir werden in Zukunft noch besser für die weltweite Versorgung aufgestellt sein.

Zur Startseite