Neun Euro statt 8,50 Euro: Berlin macht Ernst beim Mindestlohn
Ab August sollen die öffentliche Hand und Firmen, die sich in Berlin um öffentliche Aufträge bewerben, 50 Cent pro Stunde mehr zahlen. Die Wirtschaft ist sauer.
50 Cent können Wirtschaft und Politik spalten. Um diesen Betrag will die rot-rot-grüne Koalition den Berliner Mindestlohn erhöhen und damit ihre Verabredung aus dem Koalitionsvertrag umsetzen. Statt 8,50 Euro sollen die öffentliche Hand und alle Unternehmen, die sich in Berlin um öffentliche Aufträge bewerben, künftig neun Euro in der Stunde zahlen – die erste Erhöhung seit 2013. Am nächsten Dienstag wird der Senat die entsprechenden Rechtsverordnungen durchwinken, in Kraft tritt die 50-Cent-Erhöhung wahrscheinlich am 1. August.
Ramona Pop: Auch Geringverdiener sollen am Aufschwung teilhaben
Für Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Bündnis 90/Die Grünen) ist die Anhebung eine Frage der Gerechtigkeit. „Berlin erlebt eine dynamische Wirtschaftsentwicklung“, betont die Senatorin. „Mit der Anhebung des Landesmindestentgelts leisten wir einen Beitrag dazu, dass die positive wirtschaftliche Entwicklung auch bei denjenigen ankommt, die nicht so viel im Geldbeutel haben.“ Der neue Mindestlohn soll Vollzeitbeschäftigten einen Lebensunterhalt ohne staatliche Leistungen ermöglichen. Nach Schätzung der Senatsverwaltung für Wirtschaft werden gut 4000 Menschen von dem Schritt profitieren.
Für wen der Berliner Mindestlohn gilt
Der Landesmindestlohn gilt für alle Arbeitnehmer in Berlin, die in der öffentlichen Verwaltung, in Landesunternehmen oder in Einrichtungen arbeiten, die – wie Kitas – öffentlich unterstützt werden. Auch Zuwendungsempfänger bekommen künftig den neuen Stundenlohn. Da der öffentliche Dienst jedoch in der Regel höhere Tariflöhne hat, dürfte der Mindestlohn vor allem bei den – privaten – Unternehmen wirken, die sich um Aufträge der öffentlichen Hand bemühen. Denn auch sie müssen künftig nachweisen, dass sie ihren Beschäftigten mindestens neun Euro in der Stunde zahlen.
Wirtschaft fühlt sich überfordert
Die Wirtschaft sieht das nicht ein. Kleine und mittlere Unternehmen seien mit dem neuen Mindestlohn finanziell überfordert, kritisiert die Berliner Industrie- und Handelskammer (IHK). „Die Betriebe müssen den Mindestlohn schon zahlen, um sich überhaupt für einen öffentlichen Auftrag bewerben zu können“, gibt IHK-Sprecher Jörg Nolte zu bedenken. Auch dann, wenn sie später nicht zum Zuge kommen.
Auch der Hauptgeschäftsführer der Unternehmensverbände Berlin-Brandenburg, Christian Amsinck, hat kein Verständnis für den Berliner „Sonderweg“, der den Unternehmen nur „unnötige Bürokratie“ einbrocken würde. Denn je nachdem, für welchen Auftraggeber man tätig wird und in welcher Branche, gälten unterschiedliche Untergrenzen. Neben dem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn von 8,84 Euro müssten die Betriebe künftig auch den Berliner Mindestlohn und den tariflichen Branchen-Mindestlohn nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz beachten. „Der zusätzliche Aufwand würde gerade kleine und mittlere Betriebe abschrecken“, warnt Amsinck.
Fast alle Länder haben eigene Mindestlöhne
Mit seinem „Sonderweg“ steht Berlin allerdings doch nicht so allein da, wie die Wirtschaft sagt. In nahezu allen Bundesländern gibt es Ländermindestentgelte, nur Bayern und Sachsen machen nicht mit. Allerdings beschränken sich die meisten darauf, den gesetzlichen Mindestlohn auch vor Ort vorzuschreiben. Nur Bremen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Brandenburg gehen – wie in Berlin beschlossen – darüber hinaus. In Brandenburg gilt bereits der Neun-Euro-Mindestlohn. Die Gewerkschaften begrüßen den Vorstoß. Sie halten es für richtig und angemessen, dass Geringverdiener besser bezahlt werden. Allerdings hat man beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) Zweifel, ob die öffentliche Hand die Einhaltung des Mindestlohns bei der Auftragsvergabe kontrollieren kann. „In vielen Bezirken und beim Senat herrscht Personalmangel“, gibt Daniel Wucherpfennig, der die politische Planungsabteilung beim DGB Berlin leitet, zu bedenken. Wucherpfennig hofft, dass die Erhöhung tatsächlich bei den Arbeitnehmern ankommt und nicht von den Betrieben unterlaufen wird, etwa durch eine unbezahlte Ausdehnung der Arbeitszeit. „Die Bezirke müssen bei der Auftragsvergabe mehr ausgeben“, fordert er.
Was das kostet, weiß niemand
Die Politik gelobt, das zu tun. Zwar scheint derzeit niemand zu wissen, was die Anhebung des Mindestlohns die öffentliche Hand kosten wird. Doch eines ist gewiss: Eine „Verstärkung einzelner Haushaltstitel in nicht quantifizierbarer Höhe“ könnte bei künftigen Vergaben erforderlich sein, heißt es in der Verordnungsbegründung.