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Stephan Schwarz
© Mike Wolff

Interview mit Handwerkskammer-Präsident Stephan Schwarz: "Bereits zahlreiche Flüchtlinge in Lehrstellen vermittelt"

Berlin wächst, Handwerker werden gebraucht und die Branche ist krisensicher aufgestellt: So optimistisch ist der Präsident der Berliner Handwerkskammer Stephan Schwarz. Im Interview spricht er auch über Azubis mit Migrationshintergrund und Flüchtlinge in den Betrieben.

Überall wird geklagt, dass sich nicht genügend Bewerber für Ausbildungsplätze melden. Wie ist die Lage im Bereich der Handwerkskammer Berlin?
Das Angebot und das Interesse an Ausbildungsplätzen sind groß. Im Berliner Handwerk haben wir im Frühjahr 8,7 Prozent mehr abgeschlossene betriebliche Ausbildungsverträge als im Vorjahr verzeichnet. Das ist bundesweit einmalig. Die Zahl bestätigt zum einen die positive wirtschaftliche Entwicklung vieler Handwerksbetriebe in Berlin und zum anderen zeigt sie das nachhaltige Ausbildungsengagement unserer Betriebe. Aber natürlich können auch gute Leistungen noch verbessert werden. Derzeit sind noch mehr als 840 offene Ausbildungsplätze für das laufende Jahr in der Lehrstellenbörse der Handwerkskammer Berlin registriert. Neben den Friseuren gibt es insbesondere bei den Anlagenmechanikern für Sanitär- Heizungs-, und Klimatechnik, Gebäudereinigern und Elektronikern, aber auch im Bereich der Lebensmittelhandwerke zahlreiche offene Ausbildungsplätze. Wir bekommen von Betrieben zunehmend die Rückmeldung, dass sie von Jahr zu Jahr weniger passende Bewerbungen erhalten. Wobei das Handwerk nicht nur auf die Schulnoten, sondern vielmehr auf die Motivation und Sozialkompetenz achtet. Die Handwerksbetriebe müssen heute anders um Azubis werben, andere Einstellungskriterien formulieren und neben den Schulabgängern den Fokus auf andere potenzielle Auszubildende wie Studienabbrecher oder Altbewerber richten. Hier sind wir auf einem guten Weg.

Unterscheidet sich Berlin vom Rest der Republik?
Im bundesweiten Handwerk sieht die Situation nicht ganz so komfortabel aus. Deutschlandweit wurden zwar im Ausbildungsjahr 2015 mehr Ausbildungsplätze angeboten als im Vorjahr. Gleichzeitig konnten knapp 10 Prozent der Ausbildungsplätze des Handwerks nicht besetzt werden. Trotzdem hat sich im Jahr 2015 im deutschen Handwerk die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge erstmals seit 2007 wieder erhöht – wenn auch nur um 0,1 Prozent.

Ist der Trend hin zu akademischen Berufen hier auch zu spüren? Wie sieht es mit Abiturienten unter den Auszubildenden aus? Ein nennenswerter Anteil?
In Berlin wird das Handwerk auch für Abiturienten immer attraktiver. Der Anteil der neuen betrieblichen Azubis, die über eine Fach- bzw. Hochschulreife verfügen, stieg gegenüber dem Vorjahr erneut und liegt jetzt bei 19,6 Prozent. Damit liegt das Berliner Handwerk auch hier bundesweit an der Spitze. Leistungsstarke Jugendliche für eine Berufsausbildung im Handwerk zu gewinnen, hat auch etwas mit der Attraktivität handwerklicher Ausbildung zu tun. Immer mehr jungen Menschen wird klar, dass eine duale Ausbildung eine echte Alternative zum Hochschulstudium ist. Berufliche Bildung muss sich heutzutage nicht mehr hinter einer akademischen Ausbildung verstecken.

Die Kammer hat ja eine sehr aufwendige Werbekampagne für die Ausbildung gemacht. Hat es sich gelohnt?
Das Image des Handwerks und der handwerklichen Berufe hat sich in den vergangenen Jahren stark verbessert. Das liegt zum einen an den zahlreichen Aktivitäten der Handwerkskammer und der Innungen, aber auch an der bundesweiten Imagekampagne des Deutschen Handwerks, die seit nunmehr sechs Jahren sehr erfolgreich läuft – vor allem in den sozialen Medien. Vor der Kampagne gaben elf Prozent der jungen Menschen an, in letzter Zeit etwas über das Handwerk gehört oder gelesen zu haben. Im vergangenen Jahr waren es 48 Prozent. Inzwischen weiß die Mehrheit der Jugendlichen, dass weit mehr als 100 Berufe zum Handwerk gehören. Vom Anlagenmechaniker SHK bis zum Zweiradmechatroniker. Der Anlagenmechaniker war übrigens 2015 zum ersten Mal der beliebteste Beruf bei den jungen Männern, noch vor dem Kfz-Mechatroniker. Bei den jungen Frauen steht nach wie vor die Friseurin an der Spitze.

Haben Sie unter den jungen Berlinerinnen und Berlinern mit Migrationshintergrund Bewerber? Was glauben Sie, warum ist die Zahl so klein?
Sie wird immer größer. Immer mehr Auszubildende mit ausländischem Pass starten ihren beruflichen Karriereweg im Handwerk. Ihr Anteil an allen Auszubildenden steigt seit Jahren kontinuierlich an. 2015 wurden 832 junge Menschen mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit im Berliner Handwerk ausgebildet. Dies waren 67 mehr als im Vorjahr. Ihr Anteil an der Gesamtzahl der Auszubildenden betrug 8,9 Prozent. Unter diesen Auszubildenden, die aus 88 verschiedenen Staaten kommen,  stellen die türkischen Staatsbürger mit 270 Lehrlingen die größte Gruppe, gefolgt von den Serben und Polen. Die Statistik ist allerdings mit Vorsicht zu genießen. Den Kammern liegen zwar Daten über die Staatsangehörigkeit ihrer Auszubildenden vor, nicht aber über den Migrationshintergrund. Der Anteil der jungen Menschen unter 21 mit Migrationshintergrund in Berlin beträgt 43 Prozent. Eine große Zahl dieser Jugendlichen ist auch im Berliner Handwerk tätig. Und insgesamt betrachtet zählt für uns sowieso nicht, wo jemand herkommt, sondern es ist uns wichtig, wo jemand hinwill.

Und wie sieht es mit den Flüchtlingen, den Asylbewerbern aus? Die Kammer hatte eine sehr gelobtes Programm mit Namen wie ARRIVO oder Schlesische 27 gezielt für diesen Kreis. Hat das was gebracht?
Ja. Ausbildung und Arbeit sind die Schlüssel zu einer erfolgreichen Integration von Geflüchteten in unsere Gesellschaft. ARRIVO ist in dieser Hinsicht sehr erfolgreich. Insgesamt 204 Teilnehmer haben im Rahmen des Projekts "ARRIVO Übungswerkstätten" handwerkliche Berufe kennen gelernt. Diese hochmotivierten jungen Flüchtlinge haben 118 Betriebspraktika absolviert und  57 Teilnehmer wurden bereits nach wenigen Monaten erfolgreich vermittelt: 33 in Ausbildung, sieben in Beschäftigung, 12 in Einstiegsqualifizierung, einer in Nachqualifizierung, drei in Weiterbildung und einer in Umschulung. ARRIVO Berlin ist eine gemeinsame Initiative der Handwerkskammer Berlin, des Berliner Senats und des Berliner Netzwerks für Bleiberecht "bridge". Konzeptionell und organisatorisch betreut wird die Initiative vom Internationalen JugendKunst- & Kulturhaus Schlesische 27. Diese Einrichtung in Berlin-Kreuzberg verfügt über langjährige Erfahrung in Programmen der Berufsorientierung und konnte bereits zahlreiche junge Flüchtlinge in Lehrstellen vermitteln. Nach anderthalb Jahren ist „ARRIVO – Flüchtling ist kein Beruf“ als Marke überregional bekannt. Inzwischen wurden die Angebote und Projekte unter der Dachmarke ARRIVO erweitert, so gibt es aktuell neben den "ARRIVO Übungswerkstätten" das "ARRIVO Kontaktbüro" und die "Hospitality – Ausbildung und Beschäftigung für junge geflüchtete Menschen im Berliner Gastgewerbe" und ARRIVO bei der Fachgemeinschaft BAU. Insgesamt beteiligte sich die Berliner Wirtschaft unter dem Dach von ARRIVO bis heute an der beruflichen Qualifizierung von 527 geflüchteten Menschen. Mit diesen ersten vielversprechenden Erfahrungen sind wir gut gerüstet, wenn Ende des Jahres eine weitaus höhere Zahl von Flüchtlingen – nach dem Absolvieren der Sprach- und Integrationskurse – dem Ausbildungsmarkt zur Verfügung steht.

Wie groß ist die Bereitschaft der Betriebe, junge Flüchtlinge auszubilden?
Die Betriebe beteiligen sich rege an unserem Projekt und bieten Praktikums- und Ausbildungsplätze an. Dafür bin ich sehr dankbar. Allerdings zeigen die Erfahrungen, dass die Flüchtlinge sehr viel Unterstützung brauchen, um eine Ausbildung erfolgreich abzuschließen. Aber auch den Betrieben muss mehr geholfen werden. Die Handwerkskammer beteiligt sich daher am Bundesprogramm Willkommenslotsen des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie. Zwei Willkommenslotsinnen der Handwerkskammer beraten die Betriebe vor der Einstellung und während der Ausbildung.

Haben Sie das Problem lösen können, dass nicht mehr während der Ausbildung oder unmittelbar danach abgeschoben wird?
Wir haben das schon lange gefordert und jetzt wird es kommen: Das geplante Integrationsgesetz sieht vor, dass während einer Ausbildung der Flüchtling nicht abgeschoben werden kann. Auch eine Bleibezusage für zwei Jahre nach erfolgreich bestandener Prüfung ist in den Gesetzentwurf mit aufgenommen worden. Damit wurden die Anregungen der Wirtschaft im neuen Gesetz berücksichtigt. Jede Abschiebung aus der Ausbildung ist für den Flüchtling dramatisch, es ist auch ein wirtschaftlicher Schaden für die Betriebe und ein Verlust für die Gesellschaft.

Schrecken die hohen Kosten der Meisterausbildung junge Leute ab?
Es lohnt sich immer, den Meister zu machen. Allein im vergangenen Jahr konnten wir mehr als 400 Männer und Frauen als neue Meisterinnen und Meister im Berliner Handwerk begrüßen. Natürlich ist das Absolvieren der Meisterprüfung sehr anspruchsvoll. Man lernt, einen Handwerksbetrieb zu führen und Lehrlinge auszubilden. Der Meisterbrief ist ein Beleg für besondere Qualifikation. Zudem ist die Meisterprüfung Voraussetzung für die Selbstständigkeit in den zulassungspflichtigen Handwerken. Aber auch in den zulassungsfreien Handwerken eröffnet eine Meisterqualifikation den besten Weg in die Selbstständigkeit und viele Möglichkeiten für den Aufstieg zur Führungskraft. Eine solche Qualifikation kann es nicht zum Schnäppchenpreis geben. Doch es gibt  die Möglichkeit, über das sogenannte "Aufstiegs-Bafög" (ehemals Meister-BAföG) Zuschüsse zu erhalten. Mit dem Aufstiegs-BAföG sollen noch mehr Menschen für Weiterbildung gewonnen werden. Wir brauchen gut ausgebildete Fachkräfte, um die  Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu sichern.

Hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Handwerk tatsächlich auch heute noch goldenen Boden haben kann?
Der Boden ist goldener denn je. Dies liegt nicht zuletzt an der Tatsache, dass das Handwerk krisensicher ist. Das Handwerk ist der Fels in der Brandung – Finanzkrisen und Niedrigzinsen haben ihm nicht geschadet, sondern dafür gesorgt, dass immer mehr junge Menschen sich fürs Handwerk entscheiden. Gerade in einer wachsenden Metropole wie Berlin werden Handwerker dringend gesucht. Eine Großstadt mit mehr als 3,5 Millionen Einwohnern und entsprechenden Wohnungen, Häusern, Infrastruktur, Bedarfen an Lebens- und Genussmitteln braucht seine Handwerker im Kiez. Das ist auch eine Frage von Lebensqualität, wenn man den Bäcker und den Schuhmacher um die Ecke hat.

Dieses Stück erschien zuerst im Wirtschaftsmagazin "Köpfe" aus dem Tagesspiegel-Verlag, das Sie hier bekommen können: Tagesspiegel Köpfe bestellen

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