Unternehmer und Karl Marx: "Bei uns entscheidet jeder selbst, wie viel er verdient"
Auch 200 Jahre nach der Geburt von Karl Marx sind einige seiner Ideen brandaktuell: Firmen experimentieren mit neuen Arbeitnehmerrechten. Der Philosoph würde sich im Grabe umdrehen
Wie sich Karl Marx am Kicker geschlagen hätte, weiß niemand. Doch die heutigen Arbeitsbedingungen – nicht nur in der Start-up-Szene – dürften den Ökonomen und Vordenker, dessen 200. Geburtstag am Wochenende gefeiert worden ist, sicher sehr interessiert haben. Ungleiche Macht- und Lebensverhältnisse waren sein Lebensthema. „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“, schrieb er 1848 im kommunistischen Manifest an die Arbeiter, die ihre Arbeitskraft in den Fabriken verkauften. Proletarier – und damit ausgebeutet – waren für ihn alle, die vom Lohn abhängig waren.
Seine Thesen sind auch heute noch brandaktuell, sagt nicht nur der Bundespräsident. Denn so wie damals der landwirtschaftliche Sektor abgewickelt wurde, sind im heutigen Zeitalter der Digitalisierung Arbeitsplätze durch die zunehmende Automatisierung bedroht. Tarifverträge, faire Arbeitsbedingungen und Mitbestimmung sind insbesondere für Start-ups Fremdworte. Und doch gibt es Firmen, die Teile von Marx’ Gedanken aufgenommen haben in ihre Unternehmenskultur und versuchen, ihren Besitz mit den „Lohnarbeitern“ gerechter zu teilen – das geht allerdings nicht immer gut.
Einhorn Kondome: „Unfuck the Economy“
Philip Siefer findet es „seltsam“, Menschen für ihre Arbeit zu bezahlen: „Jeder hasst es doch eigentlich, dass auf das, was er leistet, ein Preisschild gedruckt wird“, sagt er. „Unfuck the Economy“ ist deshalb das Motto, mit dem er die Arbeitswelt umkrempeln will – und damit bereits in seinem eigenen Unternehmen Einhorn angefangen hat. Vegane Kondome sind die Geschäftsidee des Berliner Start-ups, bei der Herstellung wird auf das Milchprotein Kasein verzichtet, das sonst in der Latexherstellung zum Einsatz kommt. Verkauft werden die Gummis in Tüten, die wie Chipspackungen aussehen. Mehr als eine Million Euro Umsatz macht das 2015 gegründete Unternehmen inzwischen, das 18 Mitarbeiter beschäftigt. Wie viel sie verdienen und wie viele Urlaubstage sie nehmen, dürfen sie selbst entscheiden – und nein, die Kasse ist nicht komplett leergeräumt.
„Wir haben überlegt, wie ein Unternehmen aufgebaut sein muss, in dem die Mitarbeiter motiviert und gleichzeitig glücklich sind“, erklärt Elisa Naranjo, die bei Einhorn für die Umsetzung der ungewöhnlichen Unternehmenskultur verantwortlich ist. In traditionellen Unternehmen, wo keine Lohntransparenz herrsche, seien Mitarbeiter oft frustriert und demotiviert, weil sie nur per Flurfunk erfahren, wie viel ein Kollege verdient und das Gefühl hätten, dass der Chef nicht nach Leistung, sondern nach Bauchgefühl über das Gehalt entscheide.
Bei Einhorn liegen die Karten dagegen auf dem Tisch – selbst das Gehalt der beiden Gründer und Chefs wird im sogenannten „Gehaltsrat“ verhandelt. Dabei dürfe das höchste Gehalt – bei Einhorn sind das 4860 Euro netto – nur dreimal so hoch sein wie das niedrigste Gehalt. Verdient also der Bestverdiener mehr, bekommt automatisch auch derjenige, der in der Firma am schlechtesten verdient, eine Gehaltserhöhung, wobei das Grundgehalt bei 2500 Euro brutto liege. Wer ein Kind bekommt, erhält 400 Euro oben drauf.
„Tatsächlich herrscht durch diese Transparenz bei uns weder Neid noch Missgunst“, versichert Naranjo. Das System entwickele sich schon deshalb nicht zum Selbstbedienungsladen, weil das Unternehmen dann schnell pleite und der Job weg wäre. Das würde auch für die Urlaubstage gelten, von denen jeder so viele nehmen kann, wie er will. „Das regelt sich über die Kollektivverantwortung bisher sehr gut“, sagt Naranjo, die 2017 selbst 32 Tage genommen hat.
Quasi wöchentlich kommen bei Einhorn Vertreter großer Unternehmen wie Daimler oder SAP auf Start-up-Safari vorbei. Vielleicht kann ein bisschen mehr Marx auch ihnen nicht schaden?
Unternehmensberatung Vollmer & Scheffczyk: „Zu romantisch“
Fabian Schünke sieht es dagegen kritisch, wenn Mitarbeiter über ihr eigenes Gehalt bestimmen dürfen. „Man stellt sich das zu romantisch vor“, sagt der Senior Consultant bei der Unternehmensberatung Vollmer & Scheffczyk mit Sitz in Hannover – das weiß er aus eigener Erfahrung, denn auch hier legen die Mitarbeiter fest, wie viel sie verdienen. Schätze man sein Gehalt zu hoch ein, kriege man auch mal „den sozialen Druck“ durch die Kollegen zu spüren, erzählt Schünke.
In seinem Unternehmen wissen die Mitarbeiter nicht nur voneinander, wie viel sie verdienen, sondern sie kennen auch die finanzielle Situation des Unternehmens. Bevor sie ihre Gehälter festlegen, müssen sie das jeweilige Wunschgehalt mit den Gehältern der Kollegen vergleichen. Im zweiten Schritt besprechen sie dann mit einigen Kollegen, welches Gehalt sie sich geben wollen, so Schünke. Entscheiden muss jeder für sich – „konsultativer Einzelentscheid“ heißt das intern.
Schünke gab sich 20 Prozent weniger Gehalt als bei seinem vorherigen Arbeitgeber. Trotzdem sieht er viele Vorteile in dem Unternehmenskonzept: Das große Vertrauen sei die Basis für innovatives Denken. Gibt sich denn niemand ein zu hohes Gehalt? Vereinzelt nutzten Leute das Vertrauen aus, aber die seien eher die Ausnahme, so Schünke.
CPP Studios: „Einheitsgehalt gerecht“
Sozialen Druck und Hierarchien sind genau das, was Gernot Pflüger in seinem Unternehmen vermeiden will. Bei seiner Werbeagentur gibt es weder Hierarchien, noch Gehaltsunterschiede. Der Chef der Werbeagentur CPP Studios in Offenbach ist sich sicher: „Ein Einheitsgehalt ist ungerecht, aber das gerechteste was ich je gefunden habe.“ So könne er auch Tipps von Auszubildenden annehmen. In anderen Unternehmen würden die sich überhaupt nicht trauen, dem Geschäftsführer Ratschläge zu erteilen. Mit der Strategie überstehe sein Unternehmen auch Krisen. Ob das Sozialismus sei? „Nein. Wir sind Vollblutwerber, mit Sozialismus haben wir nichts zu tun“, sagt Pflüger. Durch den geringen Unterschied gebe es in seiner Firma dafür hohe Solidarität untereinander. CPP Studios entscheide am Ende des Jahres sogar über die Gewinnverwendung: „Wir gucken, welche Investitionen anstehen, dann wie viel wir auszahlen können. Da gab es auch mal zwei bis drei Gehälter zusätzlich.“
H&H Team: Alles für Alle
„Es gab Zeiten, da lief es nicht so gut bei uns“, sagt Robert Ostendorf, Prokurist des westfälischen Bauunternehmens Heitkamp und Hülscher. Als das Unternehmen auch dank des Engagements der Mitarbeiter wieder stabiler dastand, sollten sie belohnt werden. 2006 wurde deshalb die Tochterfirma H&H Team gegründet, der seitdem alle Werkzeuge und Maschinen gehören. Sie ist zur Hälfte im Besitz der Angestellten, die andere ist beim Mutterkonzern verblieben, der sich bei der Mitarbeiter-Firma nun die Geräte leiht. „Zu marktüblichen Preisen“, sagt Ostendorf. Die H&H Team mache damit hohe Gewinne, denn die Mitarbeiter fühlten sich verantwortlich für die Maschinen. Sie würden viel besser gepflegt als zuvor, nahezu keine Teile kämen mehr abhanden. Auch die Fluktuation sei seither äußert gering. Von 100 Mitarbeitern seien in den letzten Jahren nur zwei gegangen. Der Lohn habe sich trotzdem nicht verändert. Heitkamp und Hülscher zahlt Tarif. Die Entscheidungsmacht der Mitarbeiter bleibt damit also gering.
Premium: 15 Euro für jeden
Der Hamburger Getränkehersteller Premium setzt dagegen vollständig aufs Kollektiv. Über jede Veränderung stimmen die Kollektivisten ab. 230 Personen diskutieren bis sie sich einig sind, die Unternehmensgrundsätze müssen streng eingehalten werden: keine Gewinnmaximierung, keine Werbung, keine Kredite, um nicht von Wachstumszwang abhängig zu sein. Das Kollektiv zahlt seinen zwölf Mitarbeiter derzeit einen Einheitslohn: 15 Euro, egal für welche Tätigkeit, erklärt Elena Tzara, Kollektivistin bei Premium. Für besondere Belastungen im Alltag wie eine Behinderung oder Kinder gebe es Zuschläge. Am kapitalistischen Markt wird das Kollektiv allerdings nicht reich: Eine Premium-Cola kostet 2,79 Euro – zu teuer für die meisten Kunden.
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