Stromtrassen für die Energiewende: Anwohner in Bayern stellen sich quer
Der Protest gegen neue Stromleitungen für die Energiewende in Bayern geht weiter. Dabei wollte Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer das Thema schon längst abgeräumt haben
Jeden Monat machen sie weiterhin ein „Kopfstellentreffen“ – da versammeln sich Vertreter bayerischer Bürgerinitiativen gegen die geplanten Stromtrassen. Beim letzten Mal nahmen sie sich den im Juli von der Berliner Koalition beschlossenen „Energiekompromiss“ vor. Ihr Fazit: Das Konzept ist durchgefallen. Von einer dezentralen Energiewende sei darin keine Rede, die neu geplanten Leitungen hätten weiterhin das Ziel, „zusätzlich Braunkohlestrom zu vermarkten“, heißt es in einer Erklärung der Aktionsbündnisse gegen Hochspannungsleitungen.
Bayerns Ministerpräsident wollte den Protest befrieden
Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) wollte den Protest befrieden. Zwei gewaltige neue Trassen hatte die Koalition ursprünglich auch mit CSU-Zustimmung beschlossen: den „Südlink“ und die vor allem heftig kritisierte „Gleichstrompassage Süd-Ost“ von Sachsen-Anhalt quer durch Nordbayern. Als der Protest im Frühjahr 2014 anschwoll, versprach Seehofer eine Wende: Es werde keine Trassen geben, die Felder und Wälder zerschneiden und Angst hervorrufen. Er werde sie in Berlin wegverhandeln, versprach der CSU-Chef.
2-x= 0, rechnet Seehofer
Pullenreuth in der nördlichen Oberpfalz hat 1750 Einwohner. Es ist eine sehr ländliche, schöne und für bayerische Verhältnisse arme Gegend. Hier sitzen der Förster Wolfgang Schödel und Maria Estl am Tisch. Sie war lange Jahre Angestellte bei einer Pensionskasse. Die beiden Mittfünfziger sind Trassengegner der ersten Stunde, nun planen sie die Zukunft. „Die wollen uns weiter verarschen“, sagt Schödel „aber wir sind ned bled“. 2-x = 0. So rechnet Seehofer. Zwei oberirdische Trassen waren geplant, keine wird kommen. Stattdessen soll der Strom vom Norden an schon bestehende Leitungen angebunden werden oder durch neue Kabel unter der Erde fließen – zumindest „vorrangig“, wie in dem Beschluss der Koalitionsspitzen steht. Die Gegner halten eine andere Gleichung für richtig: 2-x = 2. Weiterhin soll es zwei neue Trassen geben, nur auf andere Weise.
Eine Stromtrasse hätte durch den Naturpark Steinwald verlaufen sollen
Der Steinwald ist Naturpark, Wander- und Erholungsgebiet. Schödel zeigt auf die drei Kilometer von Pullenreuth entfernte höchste Kuppe, in 946 Metern Höhe steht dort der Oberpfalzturm. Da, sagt er, wäre die Trasse verlaufen. Die 70 Meter hohen Strommasten wären zu den markantesten Punkten des Steinwaldes geworden. Eine 120 Meter breite Trasse hätte man links und rechts daneben freilegen müssen. „In unserem kleinen Gebiet hätte man 50 Hektar Wald einfach umgehauen“, klagt Schödel.
Keiner will riesige Starkstrom-Gebilde vor der Haustür
Von Haus zu Haus ging Maria Estl, sammelte Unterschriften. Keiner will riesige Starkstrom-Gebilde vor der eigenen Haustüre, im Ort oder in der Gegend haben. Deshalb sollten sie ja auch möglichst weit ab von größeren Besiedlungen errichtet werden. Nun aber muss sie niemand mehr fürchten. Dafür sind Menschen wie Schödel und Estl zu Energieexperten geworden. Auf seinem Laptop zeigt der Förster Schödel ein Diagramm nach dem anderen – Berechnungen, Prognosen, Grafiken mit kompliziertem Inhalt. Fazit: Neue Stromleitungen machen die Wende zu alternativen Energien kaputt, denn sie geben vor Ort keine Anreize, möglichst viel Strom selbst zu produzieren. „Das sollen doch Braunkohle- und Atomstromleitungen werden“, empört sich Schödel. Denn: „Wo auch immer die Leitungen anfangen sollen, besteht eine gute Verbindung zu Kohle und Atomkraft.“ Etwa zum Braunkohleabbau in Ostdeutschland oder zum tschechischen Kernmeiler Temelin.
Die bayerische Protestbewegung ist politisch geworden
Die bayerische Protestbewegung hat sich gewandelt, sie ist politisch geworden – weg vom Partikularinteresse und hin zu einem alternativen Energiekonzept. „Die Trassen würden die dringend notwendige Entwicklung neuer Speichertechniken verhindern“, vermutet Maria Estl. Für die Zukunft wünscht sie sich „viele tausend kleine Energieversorger“. Denn: „es ist spannend, seinen Strom selbst zu machen“. Dass man in bestimmten Zeiten auch zusätzliche Energie braucht, stellen die beiden nicht in Abrede. „Dafür gibt es ja schon Leitungen“, meint Schödel.
Patrick Guyton