Warnt Lauterbach zu Recht vor Lockerungen?: Wie wahrscheinlich 500 Tote pro Tag sind und was ein Blick nach Israel zeigt
Die Zahl der Covid-Neuaufnahmen auf den Intensivstationen steigt wieder. Doch die Inzidenz müsste sich wohl mehr als verdoppeln, um die Todesraten massiv zu erhöhen.
Karl Lauterbach warnt vor 400 bis 500 Toten am Tag, sollte die Regierung schon jetzt wieder Lockerungen beschließen. Verbreitet er damit Angst, wie Kritiker sagen, oder teilt er nur seine epidemiologische Expertise mit der deutschen Bevölkerung?
Worauf Lauterbach mit seiner Warnung anspricht: Israel, wo die wegfallenden Maßnahmen eine deutlich erhöhte Sterbequote nach sich gezogen haben, trotz einer vergleichsweise hohen Impfquote.
Die Frage ist, ob die Lage in Deutschland überhaupt mit der in Israel vergleichbar ist. Und: Ob die aktuell wieder steigende Zahl der Schwerkranken und Corona-Toten der Vorbote für Schlimmeres ist. Ein Überblick über die wichtigsten Fragen und Antworten:
Welche Zahlen veröffentlichte das RKI zuletzt?
Deutschlandweit meldete das Robert Koch-Institut (RKI) am Donnerstag binnen 24 Stunden weitere 238 Todesfälle im Zusammenhang mit dem Coronavirus. Vor einer Woche waren es 164 Covid-19-Todesfälle gewesen. Die Zahl der in Kliniken aufgenommenen Corona-infizierten Patienten je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen - die Hospitalisierungsinzidenz - gab das RKI am Mittwoch mit 6,02 an (Dienstag: 5,60).
Die Zahlen, das bestätigt die oberste Gesundheitsbehörde Deutschlands, steigen damit tatsächlich. Das Bundesgesundheitsministerium und das RKI wollten hingegen keine Angaben dazu machen, auf welchen exakten Daten und Annahmen die Berechnungen des Ministers mit bis zu 500 Toten basieren.
Wie ist die Entwicklung auf den Intensivstationen?
Die Zahl der Neuaufnahmen auf den Intensivstationen ist eine Art Vorbote für die Entwicklung der Todesfälle an oder in Verbindung mit dem Coronavirus. Einem der führenden Intensivmediziner in Deutschland zufolge, Christian Karagiannidis, steigt diese Zahl derzeit nachhaltig an. Die Belegung steige bisher hingegen nur wenig. Das liegt daran, dass Intensivpatienten versterben oder auf eine Normalstation verlegt werden können.
Trotz des Auftretens der Omikron-Variante halbierte sich die Zahl der Intensivpatienten seit Anfang Dezember kontinuierlich von fast 5000 auf weniger als 2200 Ende Januar. In den vergangenen zwei Wochen ist die Zahl allerdings wieder um 200 Patienten gestiegen.
Karagiannidis, Leiter des Intensivregisters der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), sieht eine deutliche Verschiebung zur Generation über 60 Jahre. Was Hoffnung macht: Schwerste Fälle, also solche, die beatmet werden müssen, machen noch nur ein Viertel der intensivpflichtigen Fälle aus. Das liegt wohl daran, dass immer weniger Delta- und immer mehr Omikron-Fälle behandelt werden.
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In den vergangenen vier Wochen hat sich die Zahl der täglichen Neuaufnahmen auf den Intensivstationen mehr als verdoppelt, von knapp über 100 auf fast 250. Karagiannidis erklärt den neuerlichen Anstieg mit dem starken Anstieg der Hospitalisierung in bevölkerungsstarken Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen. Eine weitere mögliche Erklärung: Der Impfschutz bei den Menschen über 60 Jahren lässt nach, denn diese sind teilweise schon im November zum dritten Mal geimpft worden.
Warum zieht Lauterbach Israel als Vergleich heran?
Der Vergleich mit Israel macht deshalb Sinn, weil die Quote der Zweit- und Booster-Impfungen in der vulnerablen Gruppe Ü60 mit der von Deutschland vergleichbar ist - und Israel die Corona-Maßnahmen bereits vor einem Monat fast vollständig aufgehoben hat. Wie sich Lockerungen bei einer relativ hohen Impfquote auswirken, zeigt sich also dort.
Der einzige Haken: Israel hat eine insgesamt deutlich jüngere Bevölkerung und deutlich weniger Einwohner. Während der Altersmedian in Deutschland bei rund 47 Jahren liegt, beträgt er in Israel 31. Das bedeutet, dass in Deutschland die rund 20 Prozent, die noch nicht zweifach geimpft sind, stärker ins Gewicht fallen, schlicht weil sie Älter und damit anfälliger für das Virus sind.
Deshalb ist sich Lauterbach in Hinblick auf Israel sicher: "Bisher konnten wir in Deutschland solche Sterberaten verhindern, weil ältere Ungeimpfte durch unsere Maßnahmen geschützt sind."
Das Problem, das Israel hat - und das Deutschland nun auch zu spüren bekommen wird: Das Land hat sehr früh mit den Booster-Impfungen begonnen, was bedeutet, dass diese im Peak der Omikron-Welle schon länger zurückliegen. Denn Daten legen nahe, dass die Omikron-Variante den Impfschutz leichter umgehen kann als die Vorgängervariante Delta.
"Israel war im August das erste Land, das Booster-Impfungen verabreichte. Die Wirkung muss kontinuierlich nachgelassen haben. Die Regierung glaubte zuerst, dass dies nur einen Effekt auf die Infektionszahlen hat", sagte Barak Raveh, Modellierer an der Hebräischen Universität in Jerusalem, gegenüber der britischen Zeitung "The Telegraph". Und tatsächlich stieg zunächst nur die Zahl der Neuinfektionen. "Doch dann", so Raveh, "führte die nachlassende Wirkung auch zu mehr Fällen von Schwerkranken".
Lassen sich die 500 Toten also aus der Entwicklung in Israel ableiten?
Die Zahl der Toten stieg in der Vergangenheit meist wenige Wochen nach dem Anstieg der Zahl der Neuaufnahmen auf den Intensivstationen. Diese Zahl stieg wiederum nach einem deutlichen Anstieg der Neuinfektionen. Seit es Impfungen gibt, sind die Inzidenzen zwar stärker entkoppelt. Doch ist die generelle Entwicklung gleich geblieben.
In Israel mit seinen neun Millionen Einwohnern stieg das Sieben-Tage-Mittel der Corona-Todesfälle Anfang Februar auf über 70. Das ist Zahlen des Gesundheitsministeriums zu entnehmen. Die Inzidenz liegt bei 0,8 Toten pro 100.000 Einwohnern pro Woche. Eine solch hohe Todesinzidenz gab es in Deutschland zuletzt im Februar 2021. Damals starben mehr als 500 Menschen pro Tag im Sieben-Tage-Schnitt an oder in Verbindung mit dem Coronavirus.
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Thorsten Lehr, Leiter des Covid-19-Simulators an der Universität des Saarlands, glaubt, dass 500 Corona-Tote pro Tag auch jetzt wieder unter bestimmten Bedingungen möglich seien. "Nach unseren Simulationen sind 400 bis 500 Tote pro Tag im Sieben-Tage-Schnitt möglich, falls die Inzidenzen im Peak über 3500 bis 4000 liegen", sagt Lehr dem ZDF. Aktuell liegt die Inzidenz laut RKI bei rund 1600, wobei das Tempo des Anstiegs abnimmt.
In Israel ist die hohe Zahl an Todesfällen ein Resultat aus dem starken Anstieg der Inzidenz auf mehr als 8000 bis vor rund zwei Wochen. Sie begann Ende Dezember stark anzusteigen, gefolgt von der Zahl der Neuaufnahmen auf den Intensivstationen Anfang Januar und der Zahl der Todesfälle Ende Januar.
Diese nahm die Regierung in Kauf mit den Lockerungen, die sie beschloss. Mitte Januar fiel der Großteil der Corona-Einschränkungen in Israel, seit dieser Woche ist auch der "Grüne Pass" Geschichte. Der rapide Anstieg der Todeszahlen begann ziemlich genau zwei Wochen nach den weitgehenden Lockerungen.
Wie ließe sich die Zahl der Todesfälle kleinhalten?
Mit der Beibehaltung der Maßnahmen, da ist sich Lauterbach sicher. Eine langfristige Lösung könnte eine vierte Impfkampagne sein, wie sie in Israel bereits seit Anfang Januar läuft.
Eine vierte Impfung ist israelischen Daten zufolge sehr effektiv. Der Schutz vor einer schweren Erkrankung steige bei Menschen über 60 Jahren um das vierfache. "Dass in Israel Menschen, bei denen ein hohes Risiko bestand, dass sie schwer erkranken, ein viertes Mal geimpft wurden, hat den Druck auf die Krankenhäuser in der Omikron-Welle im Rahmen gehalten", sagen die Autoren der Studie.
Eine solche vierte Impfkampagne käme bei kurzfristigen Lockerungen in Deutschland allerdings zu spät. Solange die Zahl der Neuaufnahmen auf die Intensivstationen nicht abflacht, sind weniger strikte Maßnahmen also durchaus gefährlich. Wobei eine Szenario mit 500 Toten der Worstcase zu sein scheint.