WM-Kampf gegen Anthony Joshua: Zwölf Runden Ewigkeit für Wladimir Klitschko
Am Samstag boxt Wladimir Klitschko vor 90.000 Menschen im Londoner Wembley-Stadion um seinen Ruf, seine Ära und sein Ego.
Eigentlich wollte Wladimir Klitschko Hals-Nasen-Ohrenarzt werden. Geworden ist er – Boxer. Und was für einer. Einer, der sich trotz seiner Statur von fast zwei Metern bewegen konnte wie ein Mittelgewichtler, der aber ausgestattet war mit einem linken Jab, der die schwersten Brocken fällen konnte. So hat er sich bis ganz nach oben geboxt, auf den Thron. Wo er für lange Zeit blieb, für eine sehr lange Zeit.
Wladimir Klitschko war damals 14, als er Arzt werden wollte. Heute ist er 41 und steht vor dem Ende seiner Karriere als Boxer. Das Londoner Wembley-Stadion bietet Samstagnacht den größtmöglichen Rahmen. 90.000 Tickets für den Kampf waren in Stunden verkauft. Weltweit werden Millionen Menschen zuschauen. Werden sie Zeugen eines epischen Kampfes, einer Wachablösung gar, wenn der alternde Regent des Schwergewichts auf den 27 Jahre alten Weltmeister Anthony Joshua trifft?
In der Anfangszeit seiner Weltkarriere, als Wladimir Klitschko noch als Amateur in der Box-Bundesliga für den BC Sparta Flensburg boxte, wirkte er so unverbraucht, so groß und jung. Ein Jahr später, 1996, wurde er in Atlanta Olympiasieger. Dann, bei den Profis, demolierte er 1999 erst Axel Schulz und stieg 2000 zum Weltmeister im Schwergewicht auf. Er schien unbezwingbar zu sein. Bis er 2003 und 2004 zwei schwere K.o.-Niederlagen schlucken musste, gegen Corrie Sanders und Lamon Brewster. Als „Dead man walking“ haben sie ihn damals in den Staaten verspottet. Doch Wladimir Klitschko konnte aufstehen, er kam zurück, stärker als jemals zuvor. Beinahe zwölf Jahre lang blieb er ungeschlagen, neuneinhalb Jahre davon als Champion.
Der tiefste Fall gegen Tyson Fury
Bis zu diesem merkwürdigen Novemberabend 2015. Bis er sich von einem 2,06-Meter-Clown namens Tyson Fury aus Manchester übertölpeln ließ und seine vier WM-Titel verlor. Es war der denkbar tiefste Fall für Klitschko.
17 Monate sind seitdem vergangen, eineinhalb Jahre, in denen Klitschko nicht mehr im Ring gestanden hat. Er hat lange mit seinem Schicksal gehadert und auf einen Rückkampf gehofft. Vergebens. Fury ist nach seinem Triumph noch viel tiefer gefallen, er ist dick geworden und krank und mittlerweile kampfunfähig. Mit 28.
Nun muss ein anderer herhalten. Sein Ebenbild, wenn man so will. Der Brite Anthony Joshua ist so groß wie Klitschko und ebenfalls mit Olympiagold (2012) dekoriert. Wie Klitschko ist auch der Sohn nigerianischer Einwanderer in der Lage, seine Gegner allein mit der Führhand auszuknocken. Auch deswegen ist es für viele der aufregendste Kampf seit Lennox Lewis vs. Mike Tyson im Jahr 2002. Joshua hat seine 18 Profikämpfe alle vorzeitig gewonnen, er gilt als der „upcoming hero“, als das nächste große Ding im Königslimit. Ihm wird die Zukunft gehören, so wie es bei Klitschko vor fast zwanzig Jahren hieß. Jetzt aber geht es für ihn um alles, um sein Lebenswerk.
Die Frage ist, wie Wladimir Klitschko zurückkommt. Er ist vor einem Monat 41 geworden. Aber ja, Klitschko kann den Kampf gewinnen und noch einmal auf den Thron zurückkehren. Die Kraft und das Können dafür sollte er haben, vor allem spricht die Erfahrung für ihn. Aber hat er auch noch die Härte und das Herz dazu?
Gegen Fury fehlte es ihm, gegen diesen Zirkusboxer, wie ihn die deutsche Trainerlegende Ulli Wegner bezeichnete. Der 75-Jährige sprach von einer Farce: „Wenn meine Boxer so verlieren würden, müsste das Management mich entlassen.“
Besessen vom Sieg
Diese Niederlage hat Klitschko schwerer getroffen als seine früheren Knockouts. Der Kampf gegen Fury war eine Schmach, eine, die Klitschko tief in seinem Ego traf und lange in ihm arbeitete. Wie ein geprügelter Hund habe er sich gefühlt. Nun sagt er, er sei wie besessen vom Sieg. Die Titel seien zweitrangig. „Für mich geht es in erster Linie um mein Ego.“ Er möchte beweisen, „dass ich jeden Gegner der Welt bezwingen kann“.
So wie zu Beginn seiner Karriere, als sein Stern aufging. Die olympische Goldmedaille war für ihn die Eintrittskarte ins Millionengeschäft. Das Schwergewicht ist die größte Bühne des Boxens. Es ist die Klasse der Größten wie Muhammad Ali und George Foreman, die 1960 beziehungsweise 1964 olympisches Gold gewannen und bei den Profis epische Schlachten lieferten. Ihretwegen standen in Europa die Menschen in aller Hergottsfrühe auf. Sie schrieben die prägenden Geschichten des Boxens. Es sind die Geschichten vom Aufstieg und Fall, von Triumph und Untergang, die heute noch viele Menschen faszinieren.
Gleich nach dem Olympiasieg buhlte Don King um die Gunst des hünenhaften Boxers aus dem Osten. Und das Beste daran – es gab gleich zwei von ihnen. Von diesen Türmen, die ihre Jugend ganz in der Nähe Tschernobyls verbrachten, als es dort 1986 zu einer Nuklearkatastrophe kam. Wladimir war damals zehn, Bruder Witali keine 15. Ihr Vater war als Offizier zu dieser Zeit dort stationiert, 2011 erlag er einem Krebsleiden. Die Klitschkos lebten ein Kasernenleben. Wladimir ist in Kasachstan geboren, Witali kam in Kirgisien zur Welt. Zusammen mischten beide das Schwergewicht auf.
Don King ahnte das. Als sie seiner Einladung folgten, müssen die Klitschkos sich vorgekommen sein wie im Vorzimmer des Teufels. King, gerissen und gewieft, hatte 1974 den „Rumble in the Jungle“ veranstaltet, der Jahrhundertkampf zwischen Ali und Foreman in Kinshasa. Ein Jahr später organisierte er den Kampf zwischen Ali und Joe Frazier im „Thrilla in Manila“ auf den Philippinen.
Sie sollten als Walter und Willi Klitschmann boxen
Die Klitschkos haben mal erzählt, wie King ihnen damals den Himmel auf Erden versprochen hatte. Wie King sich nach dem Kennenlernen plötzlich ans Klavier setzte und zu spielen begann. „Sign with me, just sign with me“, trällerte King. Die Klitschkos staunten. Bis Wladimir an King herunter auf die Pedale des Pianos blickte. Die Pedale bewegten sich, doch Kings Füße standen nicht drauf. Es war ein elektronisches Klavier.
Die Klitschkos unterschrieben damals beim Hamburger Promoter Klaus-Peter Kohl, zogen in die Hansestadt und wurden zu Adoptivsöhnen des deutschen Boxens. Auch wenn sie nie unter deutscher Flagge boxten und nicht ihre Namen eindeutschen ließen wie so viele Boxer aus dem Ostblock. Die Klitschkos sollten damals als Walter und Willi Klitschmann boxen. Viel weiser war es, die Sprache ihrer neuen Wahlheimat zu erlernen.
In Amerika, dem Mekka des Boxens, steht Wladimir Klitschko die ganz große Anerkennung noch aus. Ihm fehlten die großen Schlachten, und wohl auch die großen Gegner, wie ihn Witali 2003 in Lennox Lewis hatte. Wladimirs letzter Kampf gegen Fury war dagegen ein Gruselauftritt. Auch deswegen ist der Kampf in London (22 Uhr/live bei RTL) vielleicht sein wichtigster. Er kommt zum Schluss seiner Karriere. Wird er auch ihr Ende markieren?
Womöglich hätte Wladimir Klitschko den Kampf nicht angenommen, wenn er nicht überzeugt davon wäre, ihn gewinnen zu können. So viel Selbstüberzeugung darf sein. Nur ist es mitunter ein kurzer Weg bis zur Selbstüberschätzung. Neulich hat Klitschko erzählt, dass er sich von Fury nicht bezwungen fühle. Er verglich sich mit dem Mount Everest. An manchen Tagen würde es einigen wenigen Menschen gelingen, diesen zu besteigen. So sei es auch bei ihm. Vier von seinen 68 Gegnern hätten den Zeitpunkt getroffen, zu dem sie ihn besiegen konnten. „Aber sie sind alle nicht mehr da“, sagt Klitschko, „ich schon.“
Das Beste ist sein linker Jab
Wahrscheinlich wäre er heute noch Meister aller Klassen mit einem Fritz Sdunek in der Ringecke, seinem früheren Trainer. Oder Emanuel Steward, seinem späteren Trainer bis zu dessen Tod 2012. Anschließend beförderte Klitschko seinen Sparringspartner Jonathan Banks zum Trainer. Einfach weil er mochte, wie dieser über das Boxen redete. Aber Sparringspartner sind keine Trainer, auch wenn sie noch so gern übers Boxen reden. Bis zu einem gewissen Punkt reicht die Klasse und die Erfahrung eines Boxers. Aber was, wenn im Ring Unvorhergesehenes passiert, wenn Widerstände auftauchen? Wenn einer wie Fury ihn ohrfeigt und ohrfeigt und wieder ohrfeigt? Kritiker werfen Klitschko vor, sich nur einen besseren Handlanger an die Seite geholt zu haben.
Das Beste am Boxer Wladimir Klitschko ist sein linker Jab. An guten Tagen hätte er sich seine Rechte, die Schlaghand, auf den Rücken binden lassen können, so dominant war sein Jab. Alle hatten ihm eine glorreiche Zukunft vorhergesagt, auf dass er das Schwergewicht lange Zeit beherrschen würde. Und das tat er ja auch, bis zur großen Langeweile. Die Klitschkos hätten das Schwergewicht totgeboxt, nörgelten die Amerikaner. Wie sie auch kamen und hießen, die Klitschkos hauten sie aus den Stiefeln.
Vielleicht ist das Wladimir in der Endphase ein wenig zu Kopf gestiegen, es ohne echten Trainer mit dem Rest der Welt aufzunehmen. Vielleicht wird er noch einmal das Gegenteil beweisen. Aber für wie lange? Ergeht es Klitschko am Ende wie Ray Mercer, den er vor knapp 15 Jahren in Atlantic City in die Rente schickte. Mercer war damals so alt wie Klitschko heute, 41. Damals lagen 15 Lebensjahre zwischen den beiden Boxern. Am Samstag sind es 14, die zwischen Klitschko und Joshua liegen.
Die Politik sei nichts für ihn
Wie der Kampf auch ausgehen mag, in der Nachbetrachtung wird Klitschkos Wirken an Wert gewinnen. In ein paar Jahren werden die Leute zu schätzen wissen, was Klitschko geleistet hat. Er hat die Titel der großen Verbände vereinigt und lange gehalten. Bis auf den des WBC, den sein Bruder Witali bis zu dessen Karriereende hielt. Ihrer Mutter hatten sie es als Jünglinge versprechen müssen, niemals gegeneinander anzutreten.
Wladimir Klitschko kann auf eine einzigartige Bilanz blicken. Er hat vier seiner 68 Kämpfe verloren. Ali zum Vergleich verlor fünf von 61 Kämpfen, ebenso wie Foreman von 81 Kämpfen.
Witali Klitschko hat 2012 seinen letzten Fight bestritten, mit 41, und sich einem anderen Kampf gewidmet, den in seiner Heimat Ukraine. Statt im Ring stand er im Frühjahr 2014 inmitten der Unruhen auf dem Maidan und wurde wenig später zum Bürgermeister Kiews gewählt.
Die Politik sei nichts für ihn, hat Wladimir Klitschko einmal erzählt. Arzt wird er auch nicht mehr werden, immerhin hat er einen Doktortitel abgelegt, in der Sportwissenschaft. Mittlerweile gibt er als Dozent Vorträge für Führungskräfte an der Universität in St. Gallen. Angefangen hat er damit nach der Schmach gegen Fury. Womöglich hat er da sein Ende als Boxer kommen sehen.