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Kopfbälle können große Schmerzen verursachen.
© AFP

Gefahr von Hirnschäden: Wissenschaftler warnen vor Kopfbällen im Fußball

Nicht nur Football verursacht Hirnschäden, sondern auch Fußball. Zu diesem Schluss kommen Wissenschaftler. Sie warnen vor allem vor Kopfbällen.

Es ist noch nicht lange her, ein paar Jahre, da spielten Patrick Grange und Philippe Montandon Fußball, der eine in der höchsten US-amerikanischen Amateurliga, der andere als Kapitän beim Schweizer Erstligisten FC St. Gallen. Es ist auch noch gar nicht besonders lange her, da war der wissenschaftliche Weg, den Inga Katharina Koerte und Ingo Helmich einschlagen würden, keinesfalls vorgezeichnet. Und vor ziemlich genau zwölf Jahren besuchte der Schweizer Sportarzt Gery Büsser ein Symposium in Prag. Danach wusste er: Es wird sich alles verändern.

Gery Büsser ist heute einer der renommiertesten europäischen Ärzte in der Behandlung von Gehirnerschütterungen im Sport. Inga Katharina Koerte und Ingo Helmich sind ambitionierte Forscher der Neurowissenschaften. Philippe Montandon kann inzwischen nicht mehr Fußball spielen. Und Patrick Grange verstarb im Jahr 2012. Sie alle verbindet ein Thema: Die Gefahr für den Kopf im Sport, auch in der Sportart Nummer eins Fußball. Ein Thema, das von Verbänden, der Wissenschaft und der Öffentlichkeit bis vor Kurzem ignoriert worden ist. Nun aber, im Zuge der Diskussionen in den USA um Gehirnerkrankungen, die mit Sportarten wie American Football oder Eishockey in Verbindung gebracht werden, kommt auch der Fußball auf den Prüfstand. Und es gibt Alarmierendes zu berichten.

Fußball sei Kopfsache, heißt es oft. Gemeint ist dann, dass nicht die stärksten Beine oder die größten Lungen den Erfolg ausmachen, sondern die Psyche oder die Mentalität. Doch die Sache an der Kopfsache Fußball ist, das verdeutlichen alle in diesem Bericht aufgeführten Akteure, dass Fußball nicht gut für den Kopf ist – auch dann nicht, wenn einem ein ähnliches Schicksal wie das von Philippe Montandon erspart bleibt.

Philippe Montandon war der Typ Fußballer, der vorangeht, der kämpft, der sich ins Getümmel schmeißt, der hart gegen den Gegenspieler ist, aber auch hart zu sich selbst. Zu seinen Jugendzeiten beim FC Winterthur war dies nicht anders gewesen. Auch als in einem Spiel, Montandon war 16 Jahre alt, ein hoher Ball über ihn hinwegflog, sein Mitspieler ihn per Direktabnahme wegdrosch und Montandon aus kürzester Entfernung im Gesicht traf. Dem talentierten Verteidiger wurde schwarz vor Augen und er blieb liegen. Aber deswegen nicht mehr weiter spielen? „Das Motto war damals: Mund abwischen und weiter“, erzählt Montandon. Und der Schweizer wischte sich im Laufe seiner Karriere oft den Mund ab und machte weiter, so lange, bis es nicht mehr ging.

Auch ein Kopfschutz bewahrte Montandon nicht vor dem Karriereende

Anfang Januar 2015, Montandon hatte nach seiner bereits achten Gehirnerschütterung vier Monate nicht mehr mit der Mannschaft trainiert, wollte er es noch einmal wissen. Er hatte mit den Ärzten vom FC St. Gallen einen akribischen Trainingsplan ausgearbeitet. Erst nur Spazieren gehen, dann leichtes Laufen, die Belastung minimal steigern. Aber als er sich wieder ins Mannschaftstraining wagte, traten die alten Probleme auf: Schwindel, Kopfschmerzen. „Da war mir klar, dass es keinen Sinn mehr macht.“ Neben Kopfschmerzen und Schwindel waren Lichtempfindlichkeit sowie große Konzentrationsprobleme seine ständigen Begleiter. „Heute geht es mir gut, die Symptome sind weitgehend abgeklungen“, sagt er. „Den Sport aber habe ich fast auf null reduziert.“ Manchmal spiele er noch Tennis. „Aber wenn es dann anstrengend wird, merke ich schon, dass es mir nicht gut tut.“ Nun ist Montandon froh, dass er heute fast beschwerdefrei ist. Andererseits weiß er auch, „dass unklar ist, was das alles noch für Folgen haben kann“.

Montandon ist ein Opfer des Mund-abwischen-weitermachens im Profifußball, der bis vor wenigen Jahren die Thematik Gehirnerschütterungen überhaupt nicht auf der Agenda hatte und sie auch jetzt nur zögerlich angeht. Die Zeichen mehren sich aber, dass der Fußball um eine Debatte, ähnlich wie sie seit Jahren in den USA geführt wird, nicht herumkommen wird.

Christoph Kramer spielte im WM-Finale von Rio trotz Gehirnerschütterung weiter.
Christoph Kramer spielte im WM-Finale von Rio trotz Gehirnerschütterung weiter.
© pa

Das Spiel wird immer schneller, die Zusammenstöße nehmen zu, wie auch die Mediziner an der Züricher Schulthess-Klinik, an der der Sportarzt Gery Büsser arbeitet, in ihrem Report aus dem Jahr 2015 feststellten. Die Ärzte verglichen alle Verletzungen bei den fünf Fußball-Weltmeisterschaften zwischen 1998 und 2014. Das Ergebnis: Nie gab es mehr Gehirnerschütterungen (fünf Prozent aller Verletzungen) als bei der vergangenen WM in Brasilien. Auch Karl-Heinrich Dittmar, Mannschaftsarzt von Bayer Leverkusen, sagt dem Tagesspiegel: „Gehirnerschütterungen im Fußball sind mehr geworden.“ In Dittmars Mannschaft spielt ein prominentes Opfer: der Nationalspieler Christoph Kramer. Der Mittelfeldspieler krachte im WM-Finale mit dem Kopf auf die Schulter eines Gegenspielers und zog sich eine schwere Gehirnerschütterung zu. Die Ärzte schickten ihn dennoch wieder zurück aufs Feld. Anschließend erzählte Kramer, dass er sich an dieses WM-Finale, das größte Spiel seiner Karriere, nicht mehr erinnern könne.

Gery Büsser machen solche Vorfälle wütend. „So etwas ist eine Katastrophe“, sagt er. „Kommt es zu einem zweiten Zusammenstoß in der Art, kann das mit dem Tod enden, wie es im Sport auch schon vorgekommen ist.“ Büsser ist in Europa ein Vorreiter auf dem Gebiet der Erforschung von Gehirnerschütterungen im Sport. Der Schweizer ist neben vielen anderen Funktionen seit 1998 Teamarzt des Schweizer Eishockey-Erstligisten ZSC Lions. Büsser hat schon viele Checks und Zusammenstöße gesehen und behandelt. Bis ins Jahr 2004 diagnostizierte er eine Gehirnerschütterung, dies war damals der Stand der Medizin, wenn ein Spieler bewusstlos wurde oder sich mehrmals erbrach.

In den USA dürfen Jugendliche keine Kopfbälle mehr machen

2004 kam es in Folge eines Symposiums in Prag über Gehirnerschütterungen im Sport zu einem Paradigmenwechsel. „Danach setzte sich die Erkenntnis durch, dass der Begriff Hirnerschütterung neu definiert werden muss“, erzählt Büsser. „Dass man nicht erst bei Bewusstlosigkeit davon sprechen kann, sondern auch schon dann, wenn Begleitsymptome auftreten, etwa Lichtempfindlichkeit oder visuelle Störungen.“

Büsser entdeckte dann während einer USA-Reise den sogenannten Impact-Test, den Ärzte aus der nordamerikanischen Eishockey-Liga NHL anwendeten. Beim Impact-Test werden bei den Spielern verschiedene verbale und visuelle Funktionen sowie das Erinnerungsvermögen abgefragt. „Dieser Test ermöglicht es, die Spieler nach Gehirnerschütterungen erst dann wieder einzusetzen, wenn ihre Hirnleistung im Normalbereich liegt“, erklärt Büsser. Das Verfahren, das Büsser nach Europa gebracht hat, wird inzwischen auch bei vielen Fußball-Bundesligisten angewendet. „Die Sensibilisierung für dieses Thema hat zugenommen“, sagt der Leverkusener Mannschaftsarzt Karl-Heinrich Dittmar.

Doch dieser Standpunkt liegt im Auge des Betrachters. Und wenn der Betrachter immer genauer in den Kopf schauen kann, dann kommt er vielleicht zu einem anderen Ergebnis. Inga Katharina Koerte kann sehr genau in den Kopf schauen. Die Professorin forscht an der Harvard Medical School in Boston und untersucht seit vielen Jahren die Folgewirkungen von Gehirnerschütterungen im Sport. Sie benutzt dafür neueste Verfahrenstechniken wie zum Beispiel die Magnetresonanz-Spektroskopie, die Stoffwechselvorgänge im Gehirn aufzeigen kann.

Die Studien von Koerte stellen für den Fußball ein Problem dar, weil die Medizinerin die These vertritt, dass schon das normale Kopfballspiel negative Folgen für das Gehirn hat. Koerte verglich Nachwuchs- und ehemalige Profispieler aus der Bundesliga mit Schwimmern und fand zweierlei heraus. Zum einen, dass bei den Fußballern der Cortex, die dünne Rindenschicht am äußeren Rand des Großhirns, im Vergleich zur Kontrollgruppe mit zunehmendem Alter schneller dünner wurde – ein verdünnter Cortex kann Zeichen eines beschleunigten Alterns sein und tritt bei Krankheiten wie Alzheimer auf. Auffällig dabei war, dass bei den Torhütern der Cortex am wenigsten verdünnt war. Zudem wies Koerte mittels der Magnetresonanz-Spektroskopie bei Fußballern Zeichen einer leichten chronischen Entzündung im Gehirn nach, wie sie auch bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer oder ALS auftritt.

Besonders betroffen sind Fußball-Amateure

Koerte will nicht skandalisieren. Sie sagt, dass die Werte der kognitiven Hirnfunktion der Fußballer im Vergleich zu den Kontrollprobanden zwar erniedrigt, aber immer noch im Bereich des Normalen liegten und dass Langzeitstudien dazu fehlten. Sie sagt aber auch: „Es verdichten sich die Hinweise zu einer für den Fußball alarmierenden Aussage, dass häufige Erschütterungen des Kopfes – selbst ohne akute Symptome – nicht gut für das Gehirn sind.“ Vor allem Kinder seien besonders gefährdet. „Sie haben für ihre Körpergröße relativ gesehen einen größeren und schwereren Kopf als Erwachsene. Ein Kopfball setzt deshalb eine deutlich höhere Schleuderbewegung in Gang.“

In den USA muss man kaum jemanden mehr von den Gefahren des Sports auf das Gehirn überzeugen. Im vergangenen Jahr setzte der US-amerikanische Fußballverband nach Elternprotesten Regelungen ein, die Jugendlichen das Kopfballspiel teils vollständig verbieten. Die Debatte wird dabei beherrscht von dem Zusammenhang zwischen American Football und der Nervenkrankheit CTE, den vor wenigen Wochen selbst ein Funktionär der National Football League (NFL) eingestehen musste. Auch das Filmdrama „Concussion“ mit Will Smith in der Hauptrolle trug zum Aufflammen der Thematik bei. Und die US-Wissenschaftler sind überzeugt, dass es auch eine Korrelation von CTE und Fußball geben könnte. Die Neuropathologin Ann McKee untersuchte vor eineinhalb Jahren das Gehirn des 2012 verstorbenen Fußballers Patrick Grange. Sie diagnostizierte CTE. Das ist ein Fall und daraus lässt sich kein Zusammenhang ableiten. Doch war die Diagnose Anlass für viele weitere Studien. In Deutschland aber kann man die Untersuchungen dazu an einer Hand ablesen.

Eine Ausnahme bildet die Abteilung für Neurologie, Psychosomatik und Psychiatrie an der Deutschen Sporthochschule Köln. Hier arbeiten Wissenschaftler wie Ingo Helmich daran, genauer in die Köpfe der Sportler schauen zu können. Kürzlich stellte Helmich die Nah-Infrarot-Spektroskopie vor, ein kleines Gerät, das es ermöglicht, schnell vor Ort die Gehirnaktivität von Sportlern zu messen. Basierend auf diesen Erkenntnissen arbeiten Helmich, Hedda Lausberg und die Neuropsychologin Daniela Golz an der Verbesserung diagnostischer und therapeutischer Angebote für Sportler mit Gehirnerschütterung. Und schon jetzt liegt dem Tagesspiegel eine bislang noch unveröffentlichte Studie von Helmich vor. Besonders betroffen von Gehirnerschütterungen sind demnach laut Helmich „Amateure im Fußball (Kreisliga, Bezirksliga, Verbandsliga und Oberliga) und im Handball. Dort erleiden nach unseren Studien signifikant mehr Sportler ein Gehirntrauma als in unseren Vergleichsgruppen mit Basketballern oder Volleyballern.“ Ein zusätzliches Problem sei, dass im Amateursport wegen mangelhafter medizinischer Betreuung „viele Gehirnerschütterungen nicht erkannt“ würden. Viele Freizeitsportler merken also gar nicht, dass sie ein Gehirntrauma haben. Dann besteht die Gefahr, dass sie, wie Philippe Montandon, immer weiter machen. So lange, bis nichts mehr geht.

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Martin Einsiedler

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