Vor dem Duell in der Champions League: Wie Thomas Tuchel die Karriere von Julian Nagelsmann gefördert hat
Im Champions-League-Halbfinale trifft Nagelsmann mit RB Leipzig auf PSG und Tuchel. Ohne den gegnerischen Coach hätte es seine Trainerkarriere so nicht gegeben.
Am Dienstagabend (21 Uhr, live bei Sky und Dazn) kommt es in Lissabon, im Halbfinale der Champions League, zum Duell zweier deutscher Trainer. Julian Nagelsmann trifft mit Rasenballsport Leipzig auf Thomas Tuchel und Paris Saint-Germain. Dass beide Trainer eine besondere Beziehung verbindet, erzählt dieser (leicht gekürzte) Auszug aus dem Buch „Thomas Tuchel: Die Biografie“ von Daniel Meuren und Tobias Schächter, unlängst erschienen im Verlag Die Werkstatt (19,90 Euro).
„Gersthofen, meine ich“, sagt Julian Nagelsmann und überlegt noch einmal. „Ja, doch Gersthofen. Ich weiß aber nicht mehr, wie das Spiel ausgegangen ist.“
Dass der Beginn seiner erstaunlichen Trainerkarriere einmal mit der rund 22.000 Einwohner kleinen Stadt im Landkreis Augsburg und dessen Fußballklub TSV 1909 in Verbindung gebracht werden wird, ahnt Julian Nagelsmann im Januar 2008 nicht. Damals wird der 20-Jährige vom Trainer der zweiten Mannschaft des FC Augsburg zur Gegnerbeobachtung nach Gersthofen entsandt.
Nagelsmann hat lange um die Fortsetzung seiner Spielerlaufbahn gekämpft, aber einsehen müssen, dass die Knieverletzung das Ende seines Traums von einer Bundesligakarriere bedeutet. Sein Trainer in der Landesliga-Mannschaft des FCA kann sich gut in die Lage des talentierten Defensivspielers hineinversetzen. Er hat seine Laufbahn auch schon mit 24 Jahren beenden müssen. Nagelsmanns Trainer heißt: Thomas Tuchel.
Nagelsmann erinnert sich an seinen ersten Auftrag von Tuchel und seine ersten Berührungen mit dem Trainerberuf: „Das war witzig, am Anfang bin ich mit meiner heutigen Frau zu den Spielen der Gegner gefahren. Sie hat mit der Handkamera gefilmt, und ich habe parallel dazu Notizen gemacht. Zettel, Stift und Handkamera – mehr gab es nicht“, sagt Nagelsmann.
Tuchel macht Nagelsmann zu seinem Analysten
Nach dem ersten Spiel in neuer Rolle präsentiert der neue FCA-Analyst seine Beobachtungen in der Trainerkabine. Nagelsmann ist unsicher und aufgeregt. Entsprechen die Aufzeichnungen Tuchels Erwartungen? „Beim ersten Mal habe ich zu Thomas gesagt: Ich weiß jetzt nicht, ob es das ist, was du dir erhofft hast. Das war echt spannend für mich, weil ich mir bis dahin überhaupt keine Gedanken gemacht habe, wie ein Trainer denkt. Plötzlich war wichtig: Was machen die mit Ball? Wie machen sie es defensiv?“
Tuchel ist vorbereitet, er hat die Gersthofener in einem früheren Spiel beobachtet. Gegner zu analysieren, ist schließlich sein Fetisch. Vortrag und Aufsatz seines einstigen Spielers gefallen Tuchel, Nagelsmann erinnert sich: „Thomas war angetan und erzählte mir, dass er von dem Gegner auch ein Spiel gesehen und ähnliche Dinge analysiert habe.“ Seit diesem Augenblick hat Nagelsmann eine neue Aufgabe: Er beobachtet für Tuchel bis zum Ende der Saison kommende Gegner der Augsburger Landesliga-Mannschaft.
Die Aufzeichnungen von damals hat Nagelsmann nicht gesammelt, an einzelne Details kann er sich nicht mehr erinnern. Aber Nagelsmann hat nicht vergessen, dass seine Trainerwerdung ganz eng mit dieser Zeit in Augsburg und mit Tuchel verbunden ist: „Nachdem ich ein paar Mal die Gegner gescoutet hatte, sagte Thomas zu mir, ich solle doch Trainer werden, wenn ich nicht mehr spielen könne. Er glaube, dass ich talentiert sei dafür durch die Art und Weise, wie ich ticke und wie ich spreche. Ich solle das auf jeden Fall probieren.“
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Die Vorstellung, Trainer zu werden, ist Nagelsmann zunächst fremd, aber er freundet sich im Lauf der nächsten Monate immer mehr mit dem Gedanken an: „Ich hatte das überhaupt nicht gespürt in mir, ich hatte nie im Sinn, Trainer zu werden. Ich habe mich aber sehr gefreut, dass Thomas das so sieht. Als dann absehbar war, dass meine Spielerkarriere tatsächlich nicht mehr die Früchte tragen wird wie erhofft, und ich BWL studierte, habe ich mich aber dann dafür entschieden, Trainer zu werden. Ich wusste, dass ich etwas verkaufen will, dass es dann am Ende eine Idee sein wird, daran habe ich nicht gedacht. Und ja, man kann schon sagen: Thomas hat mich konkret darauf gebracht.“
Tuchel gibt Nagelsmann den entscheidenden Tipp
Es ging sogar darüber hinaus. Als Nagelsmanns Vertrag in Augsburg ausläuft, gibt Tuchel ihm den Tipp, dass bei 1860 München in der U 17 ein Co-Trainer gesucht wird. Nagelsmann wechselt schließlich zu 1860 – und seine erstaunliche Trainerkarriere beginnt.
Als Thomas Tuchel 2005 zum FC Augsburg gewechselt ist, hat er entschieden, sich komplett dem Trainerberuf zu verschreiben. Tuchel wird in Augsburg nicht nur als A-Jugend-Trainer angestellt, sondern auch als Nachwuchskoordinator. Sein Verantwortungsbereich reicht von der U 23 mit dem Spieler Nagelsmann bis hinunter in die F-Jugend.
Tuchel ist ein wichtiger Aufbauhelfer und trägt mit seinen Impulsen entscheidend zur Zertifizierung des neuen Augsburger Nachwuchsleistungszentrums bei. Mit dieser Doppelbelastung als Trainer und Verantwortlicher für den Nachwuchsbereich lebt Tuchel drei Jahre lang in Augsburg. Zudem betreibt er damals nebenher noch eine eigene Fußballschule, mit der er immer wieder Trainingseinheiten für Nachwuchsteams anbietet.
Schon damals fällt Nagelsmann an seinem jungen Trainer das unbedingte Gewinnenwollen auf. „Thomas hatte einen extremen Siegeswillen! Er hatte auch ein extremes Selbstbewusstsein. Ich hatte immer den Eindruck, der weiß, was er kann, und weiß, was er will. Er machte nicht den Eindruck eines Neulings, er war sehr bestimmt in dem, was er tat, und einer, der weiß, dass er vielleicht auch mal ein sehr großer Trainer wird“, erinnert er sich.
Tuchels Training ist so anstrengend, dass Nagelsmann auf dem Heimweg oft einschläft
„Das Training war sehr abwechslungsreich, er hat eigentlich keine Übung zweimal gemacht. Man hat gemerkt, dass er total viel Wert darauf legt, dass die Spieler im Kopf nie in Ruhe gelassen werden. Unter der Woche war das Training auf totale Reizüberflutung angelegt, damit die Spieler die Abläufe am Wochenende als leicht empfinden im Spiel. Es war wichtig, dass es komplex, aber nicht kompliziert ist, alle mussten die Übungen verstehen. Komplex heißt, flexibel sein.“
So ähnlich klingen auch Beschreibungen von Spielern, die später über Nagelsmanns Ansatz als Trainer referieren. Tuchels Training sei auf jeden Fall prägend für ihn gewesen, erzählt Nagelsmann, der auf den Heimfahrten von Augsburg nach München oft im Zug einschläft, weil das Training so anstrengend für den Kopf ist.
Die Spieler sind nach jeder Einheit erschöpft, Nagelsmann sagt: „Man saß bei Thomas nie in der Kabine und hat gedacht: Oh, heute ist Dienstag, da machen wir das, und heute ist Mittwoch, da machen wir das. Man konnte sich nie so richtig darauf einstellen auf das, was kommt. Das war spannend und schon prägend für mich, weil ich heute als Trainer ja einen ähnlichen Ansatz verfolge. Ich kann mich allerdings an keine einzige Übung mehr erinnern, das weiß ich aber von keinem Trainer mehr.“
Tuchel hält viel vom Spieler Nagelsmann und fordert ihn stark und mit lauter und direkter Ansprache. Diese Art erleben auch viele Spieler später in der Bundesliga. Der eine kann mit diesem sehr direkten Ton umgehen, der andere nicht. Tuchel polarisiert mit dieser Herangehensweise bereits als Jugendtrainer.
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„Er ist ja ein Trainertyp, der supergut ankommt oder gar nicht“, sagt Nagelsmann. „Es gibt wenige Menschen, die ihn neutral sehen. Ich und meine Frau sind immer super mit ihm klargekommen, hatten ein super Verhältnis. Ich hatte menschlich nie ein Problem mit ihm.“
Doch Tuchel neigt in seiner grundsätzlichen Fokussierung auf das Sportliche bei Spielern, die er nicht für so förderwürdig hält, auch zu Überreaktionen auf Fehlleistungen. „Es war damals schon so, dass er Spieler ganz früh im Spiel vom Platz geholt hat, wenn diese nicht so performt haben, wie er sich das vorgestellt hat – das kam bei Thomas häufig vor.“
Als Nagelsmann Jahre später U-19-Trainer in Hoffenheim ist, besucht er das Training der Mainzer Profis unter Tuchel. Die beiden haben bis dahin keinen Kontakt mehr gehabt, Nagelsmann erinnert sich: „Es war spannend für mich, wie er reagieren würde, weil wir ja in Augsburg auch ein paar Mal aneinandergeraten waren. Aber das Wiedersehen verlief sehr herzlich und vertraut, wir haben uns zehn Minuten ausgetauscht. Thomas wirkte deutlich älter, nicht mehr so studentisch. Er hat auf dem Platz zwar noch rumgeplärrt, trotzdem hatte ich den Eindruck, er sei ruhiger geworden.“