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Zum Verzweifeln. Manuel Neuer musste mit dem DFB-Team und dem FC Bayern Rückschläge einstecken.
© Vladimir Simicek/AFP

Von Nationalmannschaft bis Champions League: Wie schlecht steht es um den deutschen Fußball?

Das Scheitern der Bundesligaklubs in der Champions League markiert einen Tiefpunkt im deutschen Fußball. Die Misere kommt aber nicht plötzlich daher.

Das Vorrundenaus der Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft im Sommer, der Abstieg in der Nations League im Herbst – und jetzt auch noch das Debakel in der Champions League. Nach Schalke 04 und Borussia Dortmund hat sich am Mittwoch auch der FC Bayern München durch eine 1:3-Niederlage gegen den FC Liverpool aus dem Wettbewerb verabschiedet. Trotz des Viertelfinaleinzugs von Eintracht Frankfurt in der Europa League macht der deutsche Fußball derzeit alles andere als eine gute Figur.

Ist das eine ernste Krise?

Oliver Bierhoff lieferte am Mittwoch ein schönes Bild zur Misere des deutschen Fußballs. Der Manager der Nationalmannschaft saß beim Champions-League-Spiel in München auf der Tribüne und trug einen Bayern-Fanschal um den Hals. Zumindest vor der Pause, als es für die Münchner gegen den FC Liverpool nach durchaus erträglich aussah. Als Bierhoff in der zweiten Hälfte von den Kameras eingefangen wurde, war der Schal weg – als wollte er mit Verlierern wie den Bayern nicht mehr identifiziert werden.

Nun gut, könnte man einwenden: Bierhoff wäre im Sommer froh gewesen, wenn seine Nationalmannschaft es wenigstens ins Achtelfinale geschafft hätte. Der Titelverteidiger schied bei der Weltmeisterschaft schon in der Vorrunde aus. Seitdem ist aus einem leisen Verdacht, dass im deutschen Fußball etwas schiefläuft, eine Gewissheit geworden, die sich am Mittwochabend endgültig verfestigt hat: Nicht mal die Bayern, Deutschlands Vorzeigeklub, Meister der letzten sechs Jahre und frischer Tabellenführer der Bundesliga, haben es in der Champions League unter die besten acht geschafft. Zum ersten Mal seit 2006 findet das Viertelfinale ohne deutsche Klubs statt.

Man kann auch darin eine gewisse Symbolik erkennen: Die Weltmeisterschaft 2006, die WM im eigenen Land, markierte den Anfang des Wiederaufstiegs des deutschen Fußballs. Seinen Höhepunkt erlebte er 2013 mit dem Champions-League-Finale zwischen Bayern und Dortmund und 2014 mit dem Gewinn des WM-Titels. Am Mittwoch in München ist diese Ära nun wohl endgültig an ihr Ende gelangt. 2006 war der deutsche Fußball jung und wissbegierig, 2019 kommt er träge und uninspiriert daher.

Im Abseits. Bayerns Serge Gnabry enttäuscht nach dem Europapokal-Aus.
Im Abseits. Bayerns Serge Gnabry enttäuscht nach dem Europapokal-Aus.
© Odd Andersen/AFP

Das Duell zwischen Bundesliga und Premier League im Achtelfinale der Champions League endete für die deutschen Klubs mit einem Debakel: In sechs Spielen sprang für Bayern, Dortmund und Schalke ein Unentschieden raus – bei fünf Niederlagen und einer Tordifferenz von 3:17. Insgesamt ergab sich ein Bild der Überforderung (Schalke), Naivität (Dortmund) und gefährlichen Routine (Bayern). Die deutschen Teams schossen exakt ein Tor aus dem Spiel heraus. Der gebürtige Bochumer Joel Matip erzielte Bayerns zwischenzeitliches 1:1 gegen Liverpool. Es war ein Eigentor.

Es ist nur ein Zufall, aber zumindest ein trefflicher, dass Bundestrainer Löw an diesem Freitag eine Art Grundsatzreferat zur Neuaufstellung der Nationalmannschaft halten wird. In der vorigen Woche hat er die Nationalmannschaftskarrieren von Thomas Müller, 29, Mats Hummels, 30, und Jerome Boateng, 30, handstreichartig beendet. An diesem Freitag wird er erläutern, mit welchen Talenten er den Wiederaufstieg wagen will. Es gibt sie noch, die Talente. Spieler wie Kai Havertz, Serge Gnabry oder Herthas Arne Maier; aber es gibt sie nicht mehr in dem Maße wie noch vor zehn Jahren.

„Was die Top-Talente anbetrifft, sind wir überholt worden. Vor allem von den Franzosen, seit einiger Zeit auch von den Engländern“, sagt Michael Zorc, der Sportdirektor von Borussia Dortmund. Frank Kramer, Trainer der deutschen U- 18-Nationalmannschaft, hat in einem Interview mit dem Tagesspiegel geklagt, dass der Nachwuchs anderen individuell hinterherhinkt: „Engländer, Franzosen, Spanier, Portugiesen, Holländer sind im Moment offensichtlich in einigen Bereichen ein Stück weiter als wir.“

In der Youth League, dem Pendant zur Champions League, ist Hertha BSC, deutscher U-19-Meister, in dieser Woche durch ein 0:3 gegen den FC Barcelona ausgeschieden. Im Achtelfinale.

Welche Gründe gibt es für die Misere?

Man kann es sich einfach machen und alles aufs Geld schieben. Die Bundesliga bekommt aktuell so viel Geld vom Fernsehen wie nie zuvor (rund 1,1 Milliarden Euro pro Jahr) – aber die Premier League erhält eben auch weiterhin gut die Hälfte mehr (1,7 Milliarden Euro). Dieses finanzielle Ungleichgewicht hat in den vergangenen Jahren zu einem gewaltigen Brain- Drain aus der Bundesliga geführt. Mit Roberto Firmino, Kevin de Bruyne, Granit Xhaka, Leroy Sané, Ilkay Gündogan und Naby Keita hat die Bundesliga viel fußballerische Qualität an die Premier League verloren.

Der Verweis auf das fehlende Geld ist die bequemste aller Erklärungen – weil er von eigenen Versäumnissen ablenkt. Ajax Amsterdam und der FC Porto sind finanziell definitiv nicht besser aufgestellt als Bayern, Dortmund und Schalke. Trotzdem haben sie es ins Viertelfinale der Champions League geschafft. Und die englischen Klubs hatten auch in den vergangenen Jahren schon deutlich mehr Geld zur Verfügung als die meisten ihrer Konkurrenten aus allen anderen Ländern. Trotzdem hat seit 2012 kein Verein aus der Premier League die Champions League gewonnen. „Wir sollten nicht so tun, dass in Deutschland der absolute Notstand ausgebrochen ist“, sagt Ralf Rangnick, Sportdirektor des Bundesligisten RB Leipzig. Wichtig sei es, dass die deutschen Klubs eine eigene Identität entwickelten und verfolgten.

Deutscher Meister. Hertha BSC holte sich 2018 den Titel, international war schon im Achtelfinale Schluss.
Deutscher Meister. Hertha BSC holte sich 2018 den Titel, international war schon im Achtelfinale Schluss.
© imago/Horstmüller

Die Misere ist in Teilen selbstverschuldet. Der deutsche Fußball ist in den Zeiten seiner großen Erfolge bequem geworden, während andere, vor allem Engländer und Franzosen, alles daran gesetzt haben, den Vorreiter wieder einzufangen. Das gilt für die Vereine genauso wie für den Deutschen Fußball-Bund (DFB) und die Nationalmannschaft. Wer Erfolge gefeiert hat, neigt dazu, erst einmal ein bisschen durchzuschnaufen, weiterzumachen wie bisher und nötige Veränderungen lieber noch ein wenig hinauszuzögern. So ähnlich ist es auch in den neunziger Jahren, nach dem WM-Titel 1990, gelaufen. Franz Beckenbauer prophezeite damals zu seinem Abschied als Teamchef, dass die Nationalmannschaft auf Jahre unschlagbar sei. Es folgte das vielleicht schwächste Jahrzehnt überhaupt in der Geschichte des deutschen Fußballs.

Wie ist es um den Nachwuchs bestellt?

Das, was gerade im Männerfußball passiert, hat der deutsche Nachwuchs schon vorweggenommen. Die U-17-Nationalmannschaft ist bei der Europameisterschaft im vergangenen Jahr in der Vorrunde ausgeschieden, die U 19 scheiterte sogar schon in der EM-Qualifikation an Norwegen, und die U 20 verlor bei der Weltmeisterschaft im Achtelfinale gegen Sambia. Oliver Bierhoff hat schon vor einem Jahr darauf hingewiesen, dass es früher pro Jahrgang sechs oder sieben herausragende Talente gegeben habe. Heute sind es noch zwei oder drei. Eine kurzfristige Rettung ist also nicht in Sicht.

Und mittelfristig?

Der DFB hat zumindest erkannt, dass in der Ausbildung neue Akzente nötig sind. Die aktuelle Misere hat im Grunde die gleiche Ursache wie die Erfolge 2006 ff.: die Nachwuchsreform um die Jahrtausendwende. Damals hinkten die Deutschen der Weltspitze vor allem taktisch hinterher. Also haben sie vornehmlich defensive Mittelfeldspieler entwickelt, die im Verbund perfekt funktionieren. Deutsche Nachwuchsfußballer, so hat es der frühere Nationalspieler Mehmet Scholl ausgedrückt, könnten „18 Systeme rückwärts laufen und furzen“, aber einen Gegenspieler ausspielen, das können sie nicht.

Um die Defizite aus den neunziger Jahren zu kompensieren, hat der deutsche Fußball zu viel des immer Gleichen ausgebildet. Dafür fehlen offensiv denkende Außenverteidiger, kantige Abwehrrecken, Eins-gegen-eins-Spieler, echte Mittelstürmer – und das zum Teil schon seit Jahren. Inzwischen wirbt der DFB für mehr Bolzplatzmentalität in der Ausbildung. „Kicken lassen, so oft wie möglich kicken lassen!“, fordert U-18-Nationaltrainer Frank Kramer. „Aber ich glaube, dass wir manchmal ein bisschen in uns selbst gefangen sind.“ Gefangen im Hang zur Perfektion.

Kritiker: U20-Nationaltrainer Frank Kramer.
Kritiker: U20-Nationaltrainer Frank Kramer.
© Christian Charisius/dpa

Kinder und Jugendliche spielen heutzutage wesentlich weniger Fußball, als sie es vor 30 oder 40 Jahren getan haben. Neben der Ablenkung durch digitale Medien liegt das auch an den Anforderungen durch den Ganztagsschulbetrieb. Das, was sie früher am Nachmittag auf der Straße oder dem Bolzplatz am Ball gelernt haben, müssen sie sich jetzt im Verein aneignen. Da aber spielen sie oft nicht – da trainieren sie.

Das Problem äußert sich nicht nur in der Spitze, sondern längst auch in der Breite. Am Wochenende fand das Finale des Drumbo-Cups der Berliner Grundschulen statt. Früher, so erzählt es ein erfahrener Nachwuchstrainer, hätte es in den fünften und sechsten Klassen jeder Schule genügend gute Fußballer gegeben: „Die konnten alle kicken.“ Heute gebe es pro Schule nur noch zwei oder drei richtig gute Fußballer.

Gibt es noch Hoffnung?

Im Fußball gibt es immer Hoffnung. Nichts währt ewig, weder der Erfolg noch der Misserfolg. Aber nur der Erfolg vergeht von alleine, für das Ende des Misserfolgs muss man einiges tun. Das Gute ist: Inzwischen ist der Leidensdruck für den deutschen Fußball schon wieder fast so groß wie zur Jahrtausendwende.

Der DFB baut vor allem auf seine neue Akademie in Frankfurt am Main, die das gesamte Wissen im deutschen Fußball bündeln soll. Aber auch darin äußert sich ein gewisser Hang zu Perfektion – und Monströsität. Das Prestigeobjekt von Manager Bierhoff, ursprünglich mit 90 Millionen Euro veranlagt, soll inzwischen mehr als 150 Millionen Euro kosten.

Anstatt auf den großen Wurf zu warten, könnte man es auch erst einmal mit kleinen Schritten probieren: mit einer besseren Trainerausbildung, mit anderen Schwerpunkten im Nachwuchs. Und auch ein Blick über die Grenzen schadet in der Regel nicht. Die Holländer zum Beispiel haben sich mit ihrer überalterten Nationalmannschaft weder für die EM 2016 noch für die WM 2018 qualifiziert. In der Nations League aber wurden sie im Herbst Gruppenerster, vor Weltmeister Frankreich und Deutschland. Und in der Champions League hat Ajax Amsterdam vorige Woche Real Madrid ausgeschaltet, den Sieger der vergangenen drei Jahre. Von der Lachnummer zum Vorbild: Im Fußball kann das ganz schnell gehen. Andersherum allerdings auch.

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