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Fahrradcomputer können mittlerweile deutlich mehr, als nur die Geschwindigkeit zu messen.
© Tobias Hase/dpa

Kolumne „Abgefahren“: Wie im Kommandostand der Formel 1

Unser Kolumnist trainiert Radfahrer und setzt dabei auch auf moderne Technik. Damit wird vieles berechenbarer – theoretisch jedenfalls.

Als Radsport-Trainer bin ich immer wieder aufs Neue erstaunt, was Menschen sportlich in der Lage sind zu leisten. Egal, ob es darum geht, überflüssige Pfunde los zu werden, einfach nur fitter zu sein oder sich auf einen Wettbewerb vorzubereiten: Alle eint, dass sie meist ein Ziel vor Augen haben, dafür bereit sind, einiges auf sich zu nehmen und auch mal aus der Komfortzone des Alltags herauszutreten.

Am vergangen Sonntag hatten beispielsweise drei meiner Schützlinge ihren großen Tag in diesem Jahr. Zusammen mit rund 4000 anderen Radfahrern starteten sie beim Ötztaler Rad-Marathon in Österreich. Das Jedermann-Rennen über 238 Kilometer gilt mit seinen 5500 Höhenmetern als Klassiker und eines der schwersten seiner Art. Zwischen dem Start und Ziel in Sölden stehen vier Berge im Weg. Kurz vor Schluss wartet mit dem Timmelsjoch und der Passhöhe auf 2500 Meter der härteste der vier Anstiege auf die Teilnehmer. Die Siegerzeit liegt meist um sieben Stunden, um die zehn Stunden wollten meine drei Schutzbefohlenen unterwegs sein.

Seit über neun Monaten hatte sich jeder von ihnen auf dieses Rennen gewissenhaft vorbereitet. Arbeit, Privatleben und das Training wurde für diese Zeit unter einen Hut gebracht, mal mit mehr und mal mit weniger Erfolg. Als Trainer hatte ich zwar Planung und Anleitungen vorgegeben, treten mussten die Sportler aber immer noch selbst. Eine Woche vor dem Start verpasste ich jedem eine persönliche Pacing-Strategie inklusive Wettervorhersage.

Denn auch im Hobbyradsport haben Puls- und Wattmesser inzwischen Einzug gehalten und machen vieles berechenbarer, theoretisch jedenfalls. Wenn das Wetter in den Bergen umschlägt, die Höhe einem zu schaffen macht oder Krämpfe dazwischenkommen, trifft Planung auf Realität und man muss improvisieren.

Um für den Fall der Fälle vorbereitet zu sein, glich am Morgen des Starts mein Arbeitszimmer einem Kommandostand in der Formel 1. Obwohl ich über 800 Kilometer entfernt vom Ort des Geschehens war, konnte ich jede Bewegung meiner Jungs sehen, fast als wäre ich bei ihnen am Hinterrad. Auf Computer, Laptop, Tablet und Smartphone liefen Livestream und GPS-Tracking, ja sogar Herzfrequenzen, Wattwerte und Geschwindigkeiten konnte ich teilweise in Echtzeit verfolgen. Wenn ein Radsport-Romantiker dabei gewesen wäre, hätte er sicher weinend den Raum verlassen.

Nach vier Stunden begann die Motivationsarbeit

In den ersten vier Stunden passierte wie immer nicht so viel. Ich nutzte die Zeit und fuhr selbst eine Runde an der frischen Luft. Nachdem ich wieder zuhause war, kam irgendwann die erste zaghafte SMS-Anfrage: „Liegen wir noch gut in der Zeit?“. Nun begann die Motivationsarbeit für die nächsten Stunden. In regelmäßigen Abständen gab es von mir Kurznachrichten über die Zeitabstände zu den anderen, zum Einhalten des Zeitplans, der Leistungsvorgaben oder zum Wetter.

Nach zehn Stunden Fahrtzeit erreichten die drei Radsport-Helden das Ziel. Auf den Selfies, die ich von ihnen bekam, sahen sie zwar ziemlich fertig aus, aber glücklich. Die Komfortzone des Alltags hatten sie für das Rennen definitiv verlassen.

Michael Wiedersich ist Radsporttrainer und schreibt hier im Wechsel mit Tagesspiegel-Volontär und Läufer Felix Hackenbruch.

Michael Wiedersich

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