Kolumne - Mein Weg nach Tokio: „Wie gut ist dein Japanisch?“
Unsere Kolumnistin Maria Tietze startet in die Saison, läuft auf Anhieb ihre persönliche Bestleistung und qualifiziert sich damit für die Paralympics.
Am 24. August 2021 sollen die Paralympischen Spiele in Tokio beginnen. Mit am Start wird die gebürtige Berlinerin Maria Tietze sein. Die inzwischen 31-Jährige begann einst mit dem Fußball als Sportlerin und ist nach einem Unfall und einer Amputation am linken Unterschenkel nun Paralympionikin (und spielt nebenbei immer noch Fußball). An dieser Stelle erzählt die Sprinterin und Weitspringerin monatlich und dann vor den Spielen in kürzeren Abständen von ihrem Weg nach Tokio.
Es war der Auftakt in die Hallensaison. In eine besondere Hallensaison, weil ja doch immer etwas Ungewissheit mitschwingt, ob die Läufe, Sprünge, Würfe vom zu hohen Inzidenzwert oder neuen Verordnungen gekippt werden. Wochen und Monate des Aufbautrainings lagen hinter uns. Die Zeiten, die wir im Training auf die Uhr zauberten, waren vielversprechend. Die Stimmung im Team war gut und voller Vorfreude.
Am Tag selbst gibt es für jeden Athleten spezifische Ankunftszeiten, damit die geplanten Coronatests in Ruhe und ohne Gruppenbildung ablaufen können. Negativ ist positiv und gewährt Einlass in die heiligen Hallen der Wettkampfstätte. Die Auflagen sind aus heutiger Sicht keine Überraschung mehr: Abstände einhalten, Desinfektion, Maske tragen, keine Zuschauer. Ich halte mich gern daran; zuallererst zum Schutz aller Beteiligten, danach auch, um Sportveranstaltungen wenigstens teilweise zu ermöglichen. Als ich mit meiner Prothese im Arm die Halle betrete, empfängt mich mehr Lärm als erwartet. Die technischen Disziplinen laufen bereits. Auf dem Papier und laut Trikotfarbe Konkurrenten, feuern sich die Athleten gegenseitig an. Auf Zuschauer verzichten wir, aber gute Stimmung darf trotzdem herrschen. Es ist schön zu sehen und zu hören, wie alle am selben Strang ziehen.
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Die Atmosphäre fängt mich ein. Ich komme mehr und mehr in Wettkampfstimmung und meine innere Anspannung legt sich etwas. Auf Kopfhörer kann ich beim Aufwärmen verzichten, ich sauge die Musik aus den Lautsprechern beim Stabhochsprung auf. Bisher gab es keine Verzögerungen im Zeitplan. Das ist gut, denn mein eigener Start wird sich dann nicht nach hinten verschieben. Zum Schluss noch ein, zwei Probestarts und ich bin bereit. Den anderen 200-Meter-Läuferinnen geht es genauso und weil der Starter (die Person, die das Startkommando gibt und den Abzug der Startpistole drückt) auf Zack ist, können wir sogar etwas früher als geplant loslegen.
Die letzten anfeuernden Worte des Trainers und die Halle wird still. Auf Kommando gehen wir in die Startblöcke und das letzte bisschen Anspannung fällt von mir ab. Ich habe gut trainiert, es ist der erste Wettkampf des Jahres und ich habe keine Erwartung an meine Leistung. Wichtiger ist, dass das paralympische Jahr beginnt. Der Startschuss ist gefallen und wir drücken uns aus den Blöcken in die Rundbahn. Hier ist keine Zeit und kein Platz für Gedanken, ich laufe einfach so schnell und frequent ich kann, ich muss Geschwindigkeit aufbauen. Nach 100 Metern nehme ich die Sprinterin auf der Bahn neben mir wahr und mache bewusst mehr Druck in den Boden, will noch schneller laufen, an ihren Fersen kleben. In der zweiten Kurve sauge ich mich ran. Im Ziel weiß ich, dass es ein schneller Lauf war. Jetzt heißt es warten, bis die Zeiten offiziell bestätigt sind. Bis mein Trainer mich endlich anschaut und fragt: „Wie gut ist dein Japanisch?“
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Es war die schnellste Zeit, die ich je gelaufen bin. Es war auch meine Qualifikation für die diesjährigen Paralympics. Für den Rest des Tages waren meine Mundwinkel an den Ohren festgetackert, ich wusste nicht wohin mit mir. Freudensprünge und Jubel reichten nicht aus, so überwältigt war ich an dem Tag, von dem ich nichts erwartet hatte.
Freuen musste ich mich vor Ort aber ohne Umarmungen und Abklatschen, es war eine etwas einsamere Freude, weil all die wichtigen Menschen zu Hause darauf fieberten, das Ergebnis mitgeteilt zu bekommen. Für einen Augenblick war es einsame Freude. Aus den Augen und den Stimmen meines Trainers und meiner Teamkameraden aber erntete ich ehrliche, geteilte Begeisterung. Dieser Moment und das unbeschreibliche Hochgefühl werden mir für immer bleiben.
Maria Tietze