Sprintstar beim Istaf in Berlin: Wie Deniz Almas die nationale Schallmauer durchbrechen will
Noch nie ist ein Deutscher 100 Meter unter zehn Sekunden gelaufen. Deniz Almas kann es schaffen - trotz oder sogar wegen seiner Körpergröße. Ein Trainingsbesuch
Die Stille wird nur durch das leise Quietschen der neongelben Schuhe unterbrochen. Deniz Almas macht sich ganz alleine warm in der Leichtathletikhalle am Leipziger Sportforum. Er trabt locker über die Tartanbahn, einen Moment später aber senkt sich sein Kopf wie bei einem Rennpferd, wenn sich das Tor der Startbox öffnet. Und ähnlich schnellkräftig jagt Almas die knapp 50 Meter auf der Tartanbahn hinunter. Als er mit viel Wucht auf eine an der Wand angelehnte Matte einschlägt, wackelt das Gebälk der Halle.
Deniz Almas will etwas bewegen in der deutschen Leichtathletik. Zunächst am Sonntag beim Leichtathletikmeeting Istaf im Berliner Olympiastadion. „Ich habe mit Berlin noch eine Rechnung offen“, sagt er. „Die deutschen Meisterschaften hier im vergangenen Jahr waren mein schlechtester Wettkampf.“ Vor allem aber will der 23-Jährige der erste Deutsche sein, der die 100 Meter in 10,00 Sekunden schafft oder – noch besser – unter der magischen Marke bleibt.
Die Deutschen und der Sprint, es ist dies eine Geschichte von Sehnsucht, Triumph und großer Enttäuschung. Geweckt wurde die Sehnsucht 1936 im Berliner Olympiastadion, als der afroamerikanische Sprinter Jesse Owens vor den Augen Adolf Hitlers der Konkurrenz davonraste. Die Deutschen feierten später in der populärsten Disziplin der Leichtathletik große Erfolge.
Armin Hary lief als erster Mensch die Distanz in handgestoppten zehn Sekunden. Die Zeit wird nach heutigem Maßstab in 10,20 Sekunden umgerechnet. Und die Läuferinnen aus der DDR spurteten in den siebziger und achtziger Jahren in Dimensionen, die – wie sich später herausstellen sollte – auch wegen anaboler Steroide zustande kamen. Mit dem Ende der DDR, dem Ende des übersteigerten Klassenkampfes auf der Bahn, war hierzulande im Sprint lange die Luft raus. Bis vor ein paar Jahren Gina Lückenkemper auftauchte und als erste Frau seit der in der DDR aufgewachsenen Sprinterin Katrin Krabbe unter elf Sekunden blieb.
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Almas könnte das männliche Pendant zu Lückenkemper werden, vielleicht sogar etwas mehr als das. Wenn er den deutschen Rekord über 100 Meter bricht. Doch bislang war es wie verhext mit der Zehn-Sekunden-Schallmauer für die deutschen Sprinter. Entweder es fehlte ein Wimpernschlag, wie bei Julian Reus’ Rekordlauf vor vier Jahren, als dieser in Mannheim in 10,01 Sekunden ins Ziel spurtete.
Oder aber die Zeit wurde nicht anerkannt, weil die Bedingungen irregulär waren. So geschehen vor sieben Jahren in Florida, als die 9,99 Sekunden von Martin Keller wegen zu starken Rückenwinds nicht als Rekord gewertet werden konnten. Zehnkommanull, die Zahl ist eine Wegmarke in der Leichtathletik. Für die Deutschen ist sie bislang Traum und Trauma zugleich. Sie trennt die Sprinternationen von den anderen. Deutschland gilt als Werfernation. Aber das muss nicht für immer so bleiben.
Almas führt Europas Bestenliste an
Es ist ein Montag, als Deniz Almas seinen schwarzen Wagen auf dem Parkplatz am Leipziger Sportforum abstellt. Es sind noch sechs Tage bis zum Leichtathletikmeeting Istaf in Berlin. Almas trägt ein abgewetztes T-Shirt und eine graue Jogginghose, in der Hand hält er einen tragbaren Lautsprecher. „Ein bisschen Musik ist immer gut“, sagt er.
Seit drei Jahren lebt der gebürtige Schwabe in Leipzig. Es hat nicht lange gedauert, bis der Kleinstädter aus dem Süden sich in der einwohnerreichsten Stadt Sachsens wohlfühlte. „Ich bin begeistert von Leipzig“, sagt er. Außerdem sei er Schwabe und dementsprechend schaue er aufs Geld. „Und was man hier Miete für eine Wohnung zahlt, ist verglichen mit Süddeutschland ein Traum.“ Almas erzählt von Freunden aus Tübingen, die für ein WG-Zimmer genauso viel zahlen würden wie er für seine Zwei-Zimmer-Wohnung mit Balkon.
Aber wegen der günstigen Wohnsituation ist Almas nicht nach Leipzig gekommen. Er ist hier, weil er noch schneller werden will. Schon jetzt ist er gut unterwegs. Aktuell führt Almas die Jahresbestenliste Europas an. Im August lief er zuerst 10,08 Sekunden in Weinheim, wenige Tage später gewann er die deutschen Meisterschaften auf einer eher langsamen Bahn und ohne Rückenwind in Braunschweig in 10,09 Sekunden.
Bei besseren Bedingungen an diesem Tag wäre die Zehnkommanull vielleicht schon fällig gewesen. Almas will sich aber nicht zu sehr mit dieser Zehnkommanull beschäftigen. Man müsse sich frei von Zeiten machen, sagt er. Sonst verkrampfe man. „Am besten gar nicht daran denken, einfach machen.“ Vielleicht passiere es dann.
Aber so einfach ist das nicht, die magische Marke hängt wie ein Damoklesschwert über ihm. Ständig wird er daran erinnert. So schaut am Montag ein Bekannter von ihm beim Training vorbei. Die beiden umarmen sich, der Besucher klopft ihm nochmal auf die Schulter und sagt: „Glückwunsch zum Titel bei den Meisterschaften. Jetzt musst du nur noch unter zehn Sekunden laufen.“
Das wünscht sich auch Ronald Stein. Der Sprint-Bundestrainer sitzt auf einem Sprungkasten und beobachtet seine Trainingsgruppe in der Halle am Leipziger Sportforum. Stein ist schon lange dabei, seit 1992 trainiert er Athleten in Deutschland. Der Sportwissenschaftler hat viele Sprinter vorangebracht, Marc Blume, Alexander Kosenkow und einige mehr. Aber die magische Zehn hat noch keiner von ihnen gerissen.
„So einen Tag würde ich gerne erleben“, sagt Stein. Ein paar Meter neben ihm liegt Deniz Almas, nur eine schwarze Unterhose tragend, auf einer Liege und lässt sich von dem früheren Sprinter Sven Knipphals durchkneten. Almas jault ein paar Mal auf, als Knipphals tief in die Muskulatur eindringt. Almas, das weiß Stein spätestens seit diesem August, könnte seinen Traum wahr werden lassen. „Es muss ein geiler Tag sein“, sagt Stein, „dann ist es möglich.“
Dass Almas der erste Deutsche sein könnte, der die nationale Sprint-Schallmauer durchbricht, war bis vor wenigen Monaten nicht unbedingt abzusehen. Seine Entwicklung in den Jahren 2017 bis Anfang 2019 stagnierte, der Sprung von 10,33 Sekunden aus seinen Zeiten beim VfL Sindelfingen bis zu 10,28 Sekunden im vergangenen Jahr war nicht vielversprechend. Geschuldet war das auch den vielen erlittenen Muskelverletzungen in früheren Jahren, bedingt wohl durch eine falsche Trainingssteuerung und nicht erkannten Instabilitäten im Rumpfbereich.
Almas hatte in Sindelfingen schlicht nicht das professionelle Umfeld, wie er es jetzt in Leipzig vorfindet. Auch dank der Unterstützung durch die Bundeswehr sowie seines Vereins VfL Wolfsburg, für den er offiziell antritt, kann er sich nun voll auf seine sportliche Karriere konzentrieren.
Vom "Spritzer" zum "Steher"
„Früher war ich Leistungssportler“, sagt er, „heute bin ich Profisportler.“ Das Profitum durchzieht nun sein ganzes Leben, angefangen bei der Ernährung. Bis vor ein paar Jahren habe er noch alles in sich hineingestopft, erzählt er. „Heute habe ich einen Ernährungsplan.“ Tagsüber gebe es keine Kohlenhydrate. Auch an das viele Training muss er sich weiter gewöhnen.
Er sei immer noch kein Trainingsweltmeister, sagt Bundestrainer Ronald Stein. Und wenn das ein Trainer frank und frei über seinen Schützling sagt, dann heißt das vor allem, dass noch sehr viel Potenzial in dem Athleten schlummert. Im Falle von Almas vielleicht sogar so viel, dass er mal in einem 100-Meter-Finallauf bei den Olympischen Spielen stehen könnte. Der letzte Deutsche, dem das gelang, war der für die DDR startende Klaus-Dieter Kurrat bei den Sommerspielen 1976 in Montreal. „So weit sind wir aber noch lange nicht“, grummelt Ronald Stein.
Vorher muss Almas weiter zulegen. Vor ein paar Jahren hatte er noch als „Spritzer“ gegolten. So werden in der Sprinterszene jene meist etwas klein gewachsenen Athleten genannt, die lediglich gut starten können und die für die Meetings nur gebucht werden, um den Spitzenläufern gleich auf den ersten Metern Beine zu machen. „Ich habe bewiesen, dass ich kein Spritzer mehr bin, der nach sechzig Metern keinen Lauf mehr ins Ziel bringt“, sagt Almas. Inzwischen, so Bundestrainer Stein, sei Almas auf den letzten vierzig Metern fast besser als auf den ersten sechzig.
Das bekannte Stehvermögen, es entscheidet darüber, ob ein Läufer es nach ganz oben schafft oder eben nicht. Hundert-Meter-Sprinter verlieren allesamt nach circa sechzig Metern an Geschwindigkeit. Ihr Ziel ist es daher, mit möglichst langen Schritten und kurzen Bodenkontaktzeiten das Tempo einigermaßen zu halten, über die Bahn zu fliegen, wie es im Leichtathletiksprech heißt. Je größer der Läufer, desto leichter lässt es sich fliegen.
Carl Lewis (1,88 Meter groß) oder Usain Bolt (1,95 Meter) sind vermutlich auch wegen ihrer Körperlänge bis heute die bedeutendsten Athleten im Sprint. Almas ist nur 1,75 Meter groß, doch das ist der amtierende 100-Meter-Weltmeister Christian Coleman auch. „Der Trend geht im Moment wieder zu den kleineren Sprintern“, sagt Almas und grinst.
Die Einheit an diesem Montag ist vorbei. Almas setzt sich auf eine Bank und zieht seine Trainingsklamotten aus. Das Shirt ist von Adidas, die Hose von Nike und die Schuhe von Puma. Das ist kein Zufall. Almas ist noch am Sondieren, welcher Sponsor es sein soll. Es gibt immer mehr Anfragen. „Nach den Meisterschaften ist schon einiges passiert in der Hinsicht“, sagt er. Er will seine schnellen Beine natürlich auch zu Geld machen. Die Zehnkommanull oder – besser noch – eine Neun vor dem Komma würde ihm dabei sicher helfen. Aber bloß nicht daran denken. Einfach machen.