Istaf-Indoor: Gina Lückenkemper: Die Frau, die vom Himmel fiel
Sprinterin Gina Lückenkemper hat viele Talente. Beim Istaf-Indoor führt sie am Freitag ihr größtes vor.
Vielleicht ist Uli Kunst, 67 Jahre alt, schon zu lange in diesem Geschäft. Vielleicht hat der Mann, der seit 40 Jahren Leichtathletik-Sprint lehrt, schon zu viel Mist und Qual gesehen, Leistungen auch, die nie und nimmer hätten erbracht werden dürfen, weil ein normaler Körper das nicht hergibt, sprich: weil gedopt wurde.
Kunst trainiert inzwischen das mit Abstand größte Talent im deutschen Frauen-Sprint: Gina Lückenkemper. Sie tritt heute über 60 Meter beim Istaf-Indoor in der Arena am Ostbahnhof an (Beginn Vorprogramm: 17 Uhr, Hauptprogramm: 18 Uhr). Lückenkemper lief im vergangenen Jahr bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften in London über 100 Meter als erste Deutsche seit Katrin Krabbe im Jahr 1991 unter elf Sekunden ins Ziel. Sie steht mit ihren 21 Jahren am Anfang ihrer Karriere und wohl jeder andere Trainer würde nun erst richtig Dampf machen, um noch mehr Leistung aus seinem Athleten herauszupressen. Kunst aber sagt: „Meine Philosophie ist, dass weniger manchmal mehr ist. Wenn ich Gina ansehe, dass sie müde ist, dann sage ich schon mal zu ihr: ‚Du, lass jetzt lieber mal ’nen Kaffee trinken gehen statt zu trainieren.‘ Wenn im Kopf nix los ist, bringt das Training auch nichts.“
Der Diplomsportlehrer Kunst ist weit herumgekommen in der Welt der Sports. Er hat als Leichtathletiktrainer viele Jahre in Katar und Singapur gearbeitet, ehe es ihn wieder nach Deutschland verschlug. „Als ich 1982 Trainer in Katar war, hatte ich ein riesiges Talent“, erzählt er. „Der Junge lief mit Anfang 20 schon 10,14 Sekunden über 100 Meter. Damals aber waren 10,14 gar nichts, da gab es wahnsinnig viele, die unter 10 Sekunden gelaufen sind – heute weiß man ja, warum das damals der Fall war. Hätte ich Frust geschoben, hätte ich es schon damals sein lassen können.“
Kunst aber hat immer weiter gemacht, auch weil er sich nie völlig dem Diktum von Zeiten und Rekorden unterwerfen wollte. „Meine Motivation ist es, Talente zu entwickeln. Ich möchte zeigen, dass man bei vorhandenem Talent auch sauber in die Weltspitze gelangen kann“, sagt er. Der Mann erlebt im Spätherbst seiner Trainerkarriere seine beste Zeit, er sagt: „Manchmal fällt wirklich ein Stern vom Himmel, der hell strahlt, ein richtiger Glücksfall. Ja, so jemand ist Gina.“
Wer Gina Lückenkemper einmal erlebt hat, der weiß, was Kunst meint. Es gibt Menschen mit beneidenswert vielen Talenten. Lückenkemper ist so jemand. Die Studentin der Wirtschaftspsychologie kann an einem Abend ein Dutzend Menschen unterhalten. Wenn sie etwa von der Allerheiligenkirmes in ihrer Heimatstadt Soest erzählt, möchte man unbedingt dieses Stadtfest besuchen. Und wenn sie ad hoc einen Werbetext für eine Organisation aufsagen soll, dann tut sie dies mit einer Leichtigkeit und Wortgewandtheit, als hätte sie beruflich nie etwas anderes getan.
Mit kaum einer anderen Athletin wird mehr geworben als mit Lückenkemper
Das größte Talent aber schlummert in ihren Beinen. Es verwundert daher nicht, dass der deutsche Leichtathletikverband sein neues Gesicht gefunden hat, mit dem er aufmerksam machen will auf die olympische Kernsportart, die seit Jahren gegen den Bedeutungsverlust ankämpft. Mit kaum einer anderen Athletin wird mehr geworben als mit Lückenkemper. Die Sprinterin ist eine der Zugpferde für die anstehenden Leichtathletik-Europameisterschaften im August in Berlin.
Ihre Bestleistungen, 10,95 Sekunden über 100 Meter und 22,67 Sekunden über 200 Meter, sind Top-Zeiten in Europa. Aber im Grunde ist klar: Es kann noch sehr viel mehr kommen, auch wenn ihr Trainer sie nicht dazu quälen wird. „Dass Gina noch weiter zur Weltspitze aufschließt, ist machbar. Es ist ein Wunsch, den wir alle haben. Aber es ist kein Traum: das Talent hat sie“, sagt Kunst.
Inzwischen hat Lückenkemper auch die Voraussetzungen dafür. Seit Jahresbeginn startet sie für Bayer Leverkusen, von den Trainingsbedingungen her ist das ein Quantensprung im Vergleich zu ihrem vorigen Klub LG Olympia aus Dortmund. „Die Probleme in Dortmund waren groß. Mitunter konnten wir uns in der Helmut-Körnig-Halle, der einzigen Leichtathletikhalle in Dortmund, nicht einmal auf die großen Events wie die Weltmeisterschaften 2017 vorbereiten, weil sie für andere Dinge reserviert wurde – hauptsächlich für Fußball“, erzählt Lückenkemper. „Dortmund präsentiert sich gerne als Sportstadt, dabei ist sie eine reine Fußballstadt. Von daher muss sich die Stadt nicht wundern, wenn die besten Leichtathleten irgendwann abwandern.“
Mit ihrem Trainer will sie nun den neuen Luxus mit technischen Hilfen wie Messplätzen für biomechanische Untersuchungen oder einer hochmodernen Zeitmessanlage nutzen, um sich heranzuarbeiten an die Allerbesten. Vermutlich wäre Lückenkemper weltweit schon vorne dabei, wenn sie ihre Startprobleme in den Griff bekommen würde. Am Start reagiert sie mitunter fast eine Zehntelsekunde zu spät. „Das ist eigentlich katastrophal“, sagt sie. „Ich denke zu viel nach. Wenn ich an nichts denke, ist es besser. Aber das ist gar nicht so einfach.“
Sollte Gina Lückenkemper es hinbekommen, ihren Kopf auszuschalten, kann aus ihr eine große Sprinterin werden. Sicher aber ist auch: Sollte sie es nicht schaffen, muss man sich um den weiteren Lebensweg der in vielerlei Hinsicht hochbegabten Frau keine Sorgen machen.