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den Verein machen würde.“
© Joram

Der Überläufer: Wie aus einem Herthaner ein Unioner wurde

Seine Stadt: Berlin. Seine Wurzeln: Neukölln. Sein Verein: Früher Hertha, heute Union. Unterwegs mit einem Fußballfan, der die Seiten gewechselt hat.

Von David Joram

Die Pokalnacht ist bereits hereingebrochen über Charlottenburg, viele Dresdner Fans sind unterwegs, manche grölen, andere poltern. Einer stolpert über einen parkenden Roller, der prompt gegen das benachbarte Auto kracht. Die schwarz-gelbe Menge johlt. Mittwoch, 19 Uhr, Pokalabend. Und Derbywoche.

Die Gaststätte „Zum Hecht“ am Stuttgarter Platz macht in diesen Tagen etwas mehr Umsatz, hier treffen sich die Hertha-Fans. Und niemals vergessen – im Hecht gibt es Essen, sagen sie. Drinnen ist es rappelvoll, draußen steht Dietmar Huhn. Kurze Haare, Stoppelbart, strenger Blick – und auf dem Kopf sitzt eine schwarze Wollmütze mit dem Logo des 1. FC Union. Wenn am Samstag das erste Stadtderby zwischen Roten und Blauen in der Fußball-Bundesliga steigt, wird Huhn die eiserne Hymne mitsingen.

Den Aufruf „Und niemals vergessen“, ins Mikro gebrüllt von Unions Stadionsprecher Christian Arbeit, wird Huhn mit einem lauten „Eisern Union“ zurückgeben. Natürlich. „Union löst ein Wohlgefühl in mir aus wie eine natürliche Form der Droge MDMA. Spiele bei Union machen süchtig. Ich weiß nicht, was ich ohne den Verein machen würde“, sagt er.

Das war nicht immer so. Dietmar Huhn, 58, lebte und litt mal für jenen Verein, den sie im Hecht am liebsten mögen: Hertha BSC. Seine Geschichte erzählt von einem, der übergelaufen ist. Vom tiefen Westen in den tiefen Osten Berlins, von Charlottenburg nach Köpenick. Die ewige Treue, die Fußballfans ihrem Verein gern schwören, hat Dietmar Huhn schon lange gebrochen.

Im Hertha-Hecht, so war es abgemacht, soll Huhn erzählen, wie es dazu kam. Ein bisschen blau-weiße Liebe wird schon noch vorhanden sein, oder?

Alles außer Hertha

„Irgendwann galt für mich: alles außer Hertha“, wird Huhn später sagen. Und: „Es hat Zeiten gegeben, in denen ich mich über Hertha-Abstiege richtig gefreut habe.“

Weil im Hecht alle Plätze belegt sind, findet das Gespräch im Thomas-Eck statt, ebenfalls eine Hertha-Kneipe. Nach dem ersten Schluck Weizenbier legt Huhn mit ruhiger Stimme los, erzählt von früher: von der Kindheit in Neukölln, wo er nahe der innerstädtischen Grenze aufgewachsen ist. Von Hertha, TeBe, Union und den wilden Jahren in London, wo er das Leben und den Fußball völlig neu entdeckt hat.

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Aber der Reihe nach. Berlin, die frühen 60er, Huhn wird in unmittelbarer Nähe zur Mauer groß. „Ich bin ziemlich abgestumpft, die Mauer war für mich Realität“, sagt er. Zeitweise lebt Dietmar Huhn nur 30 Meter von ihr entfernt, Spiele deutscher Westvereine gegen Klubs aus dem Osten seien wie ein eigener kleiner Kalter Krieg gewesen, nur eben auf dem grünen Rasen.

Union, räumlich nur wenige Kilometer entfernt, war ob der Grenze unendlich weit weg – aber auch sportlich: „Die spielten ja nicht mal DDR-Oberliga“, sagt Huhn, „mein Lieblingsteam im Osten Anfang der 70er war Hansa Rostock.“

Gesehen hat Huhn zu Mauerzeiten aber nur ein Spiel in der DDR, das Pokalfinale 1974 zwischen Dynamo Dresden und Carl-Zeiss Jena in Leipzig. „Dort hatten wir Verwandtschaft, die wir zufällig an diesem Tag besucht haben“, erinnert sich Huhn, ebenso an den Eintritt: „95 Pfennig“.

Sein Idol: Hertha-Torwart Volkmar Groß

Die große Leidenschaft galt damals der Nummer eins seiner Heimatstadt. Als Zehnjähriger fand Huhn zur Hertha. Seine Idole waren die Torhüter, allen voran der Braunschweiger Bernd Franke und Herthas Volkmar Groß. „Ich stand ja selbst im Tor, bei Tasmania 1900“, erzählt Huhn.

Der Stiefvater nahm ihn am 5. Juni 1971 schließlich das erste Mal mit ins Olympiastadion. Hertha BSC empfing Arminia Bielefeld zum letzten Spieltag der Bundesliga-Saison. Wie es ausgehen würde, wusste Dietmar Huhn vorher nicht, andere schon. Die Gäste siegten 1:0, das Spiel war gekauft worden.

„Das Skandalspiel gegen Bielefeld war eine große Enttäuschung. Wenn man so will, war meine Beziehung zur Hertha von Anfang an vergiftet“, sagt Huhn. Trotzdem blieb er den Blau-Weißen erstmal treu, „ich war eben ein typischer kleiner Hertha-Fan“ – mit Mütze, Schal und Fahne.

In der Saison nach dem Bundesliga-Skandal verpasste Huhn nur das Heimspiel gegen Bochum. „Ich fand den Berliner Fußball grundsätzlich gut und der wurde damals eben von Hertha repräsentiert“, sagt er. 1974/1975 änderte sich das. Tennis Borussia tauchte in der Ersten Liga auf und konkurrierte plötzlich mit Hertha um die Gunst des Publikums.

Dietmar Huhn feuerte beide Mannschaften an, die Blau-Weißen etwas mehr als die Lila-Weißen – bis es zum Derby kam. „Die Herthaner lästerten und machten böse Bemerkungen über TeBe, aber diesen Hass-Virus hatte ich nicht“, erzählt Huhn.

Rot gegen Blau. Unser Protagonist hat schon beide Farben getragen.
Rot gegen Blau. Unser Protagonist hat schon beide Farben getragen.
© Thilo Rückeis

Vor allem Wolfgang Holst, Herthas ehemaliger Präsident, habe sich arrogant und abfällig über den Stadtrivalen geäußert, „dass es einen Bruch gab zwischen mir und Hertha, dass es zu einer schrittweisen Entfremdung kam“.

Ab 1977 vermied Huhn Besuche im Westend, ärgerte „die Hertha-Fanatiker in der Schulklasse“ und sich selbst über die abgehobene bis hochnäsige Haltung der Charlottenburger. „Nur die Feindschaft zu Schalke blieb. Der FC Meineid! Das hat man als alter Herthaner einfach drin, bis heute hasse ich diese prollige Großkotzigkeit von denen wie die Pest.“ Ansonsten eint Huhn kaum noch etwas mit seinem einstigen Lieblingsverein.

„Ich möchte nicht mehr ins Olympiastadion. Ich habe es versucht, es passte nicht“, sagt Huhn. Irgendwann, Ende der 80er, passte ihm auch Berlin nicht mehr. Festgefahren habe er sich dort gefühlt.

Ein Freund machte ihm die Insel schmackhaft, Huhn fand einen Job und schnell war klar: London calling. „Die ersten Tage dort waren scheiße, die Stadt irgendwie abgeranzt.“ Es war jene Zeit, in der London pulsierte, „tolles Kino ebenso bot wie klasse Bands und zahlreiche Pubs“, erinnert sich Huhn. Am liebsten hörte er Indie, „bevorzugt Shop Assistants und Motorcycle Boy“.

Politisch bebte Großbritannien. Margaret Thatcher regierte, die Eiserne Lady, deren Neoliberalismus Gegenbewegungen provozierte. „Die waren meist klein, aber kreativ, das war prickelnd“, sagt Huhn.

Erst Arsenal, dann Bolton Wanderers

Prickelnder als Pop und Politik fand er nur noch den Fußball in London: „Ich war oft bei Arsenal, weil mein damaliger Partner Arsenal-Fan war. Im alten Highbury kostete ein Platz auf der North End Anfang der 90er zehn Pfund.

Man war so nah dran, dass man den Spielern auf den Kopf hätte spucken können, ein wunderbares Stadion!“ Später schwärmte Huhn vor allem für die Bolton Wanderers (ausgerechnet nach einem Sieg im Pokal gegen Arsenal) und Crystal Palace um Topstürmer Ian Wright.

Nach Huhns Berlin-Rückkehr 2013 („Ich hatte meinen Job verloren, die Zeit war reif für eine Zäsur“) sollte Crystal Palace ihm den Einstieg bei Union ermöglichen, als die Engländer 2015 zu einem Freundschaftsspiel An der Alten Försterei antraten.

8626 Zuschauer kamen, „aber die Atmosphäre war trotzdem unheimlich gut, ein bisschen wie beim ersten Mal in Highbury“, erzählt Huhn. Er wurde Dauerkartenbesitzer, Gegengerade, Sektor 3.

Mittlerweile lebt Huhn in Friedenau, verteilt dort hin und wieder Union-Aufkleber und schwärmt vor allem für die Union-Spieler Ken Reichel („Tasmania-Vergangenheit“), Christopher Trimmel („gute Ausstrahlung“) und Akaki Gogia („Der sieht ganz gut aus!“). Das Derby am Samstag ist für Huhn das Spiel der Saison. „Vergiss Dortmund und Bayern!“ Mit Hertha hat er inzwischen zwar seinen Frieden geschlossen, aber klar ist vor dem Derby am Samstag auch: „Ich hoffe natürlich auf einen Union-Sieg!“
Alle Infos zum Berliner Derby finden Sie in unserem Blog.

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