Japan bei der Rugby-WM: Wer von Neuseeland lernt, lernt das Gewinnen
Die Japaner haben sich im Rugby in kurzer Zeit zu einer Topnation entwickelt. Zu verdanken haben sie das ihrem Streben nach Perfektion – und Neuseeland.
Unser Autor wurde in Auckland geboren, stammt aus Wellington und hat in Tokio studiert und gearbeitet. Seinen Text hat Claus Vetter übersetzt.
Ein in Japan weit verbreitetes Sprichwort lautet: „Siebenmal fallen, achtmal aufstehen.“ Ich habe es in Tokio oft gehört, mit 19 Jahren bin ich dort hingezogen. Jedes Mal, wenn ich danach in meiner neuseeländischen Heimatstadt Auckland war, erzählte ich, dass das japanische Team eines Tages Rugby-Weltmeister werden wird. Alle haben mich ausgelacht. Es klang ja auch lächerlich, denn früher wurden die Japaner international im Rugby gedemütigt. 1995 gab es die bis heute höchste WM-Niederlage, ein 17:145 gegen Neuseeland. Aber ich hatte schon damals gesehen, wie Rugby-Mannschaften an meiner Universität in Japan mit dem gleichen Engagement trainierten, den ich in Kampfsport-Dojos beobachtet hatte. Ich wusste, ihr Tag im Rugby wird kommen. Weil sie niemals aufgeben.
Jetzt läuft die Rugby-Weltmeisterschaft in Japan. Und die Begeisterung für den Sport ist riesig im Land – nicht zuletzt, weil die Japaner alle ihre Gruppenspiele gewonnen haben und am Sonntag im Viertelfinale gegen Südafrika (12.15 Uhr/live bei Pro7Maxx) antreten. Dieser Erfolg ist das Resultat kontinuierlicher Arbeit. Das Niveau im japanischen Rugby ist seit der Riesenschmach von 1995 kontinuierlich gestiegen. In der Top League spielen 16 Profiteams. Ihre Eigner sind Konzerne, die Spieler, viele von ihnen kommen aus dem Ausland, kassieren zum Teil absolute Spitzengehälter. Die Stadien sind voll, bei wichtigen Spielen ist Kaiser Naruhito live dabei. Rugby ist gewachsen in Japan, es gibt mehr Nachwuchs als noch vor 20 Jahren und viel mehr Begeisterung im Land für den Sport.
Neuseeland und Japan sind eng verbunden im Rugby, mit Jamie Joseph trainiert sogar ein gebürtiger Neuseeländer Japans Team. Die Japaner haben vor allem von Neuseeland gelernt. Auch wenn die Neuseeländer in jedes Duell mit Japan als klarer Favorit gehen, über den Gegner lachen sie nicht mehr in meiner Heimat.
In Neuseeland ist Rugby alles. Als ehemalige britische Kolonie haben wir das Spiel um 1870 von Großbritannien geerbt und es wurde schnell zur Lieblingsbeschäftigung aller kleinen Gemeinden im hauptsächlich landwirtschaftlich geprägten Land. Die harte Körperlichkeit des Spiels war bei Bauern, Schafscherern und der Maori-Gemeinschaft beliebt. „Bier, Rugby und Kirche“ – das war unser kulturelles Rückgrat unseres Pionierlebens im 19. Jahrhundert.
Damals, in den 1850er Jahren, begann Japan nach 300 Jahren der politischen und wirtschaftlichen Isolation von der Welt, seine Türen zu öffnen. Die Japaner waren beeindruckt von der Technologie des Westens und holten nach und nach auf. Innerhalb von 50 Jahren erreichte Japan das, wofür westliche Länder 150 Jahre gebraut hatten. Wenn die Japaner etwas wirklich wollen, dann geht das schnell. An sich braucht es zwei, drei Generationen, um im Rugby ein starkes Niveau aufzubauen. Japan schafft das quasi in einer Generation, wie sich bei der WM zeigt.
In Japan setzen sie vor allem auf eine Elite im Rugby
In Japan setzen sie vor allem auf eine Elite im Rugby, das ist anders als in Neuseeland. Als ich 1975 mit fünf Jahren zur Schule kam, war Rugby für alle Jungs Teil des Stundenplans, jeden Samstagmorgen war ein Rugby-Match. Wir hatten ein Training nach der Schule, wir spielten Rugby mit unseren Klassenkameraden zur Mittagszeit. An meiner Schule gab es keine andere Wahl. Kein Basketball, kein Fußball, kein Eishockey: Im Winter gab es Rugby, im Sommer Cricket. Dabei lernten wir auch unser einheimisches Maori- Erbe kennen. Eine Methode, dies Kindern näherzubringen, war traditionelles Singen und Tanzen. Alle Jungen lernten den Maori-Kriegstanz „Haka“, der auch von der neuseeländischen Rugby-Nationalmannschaft vor jedem Spiel getanzt wird.
Der Haka hat viele Formen, aber die Standardversion, die wir in Neuseeland zuerst gelernt haben, wurde einem Maori-Häuptling zugeschrieben, der im Kampf kurz vor dem Tod stand, aber überlebte und einen weiteren Tag gewann. Häuptling Te Rauparaha ruft: „Kamate Kamate, Ka Ora Ka Ora – Es ist der Tod, es ist der Tod, aber ich lebe, ich lebe.“ Ich hätte nie gedacht, dass der kleine Schuljungengesang mich in Japan verfolgen würde. Als Erwachsener führte ich den Haka in Bars und Restaurants überall in Japan auf. Ich trat sogar im nationalen Fernsehen auf und gewann den zweiten Preis bei einem Wettbewerb.
Als Kind haben mich Samstage nervös gemacht. Schlimm waren die Rugby-Väter, erwachsene Männer, die ihre Söhne während der Spiele anschrien und sich beschwerten, bis sie rot im Gesicht wurden. Ich habe nie wirklich verstanden, warum so viel Action am Spielfeldrand sein musste. Ich war ein schneller Läufer und wurde viele Male als „Spieler des Spiels“ ausgezeichnet, sodass die Lehrer mir eine gute Rugby-Zukunft prophezeihten.
Doch als ich 13 Jahre alt war und die High School begann, verließ mich meine Begeisterung für Rugby und verwandelte sich in ein Interesse für japanisches Karate. Nachdem ich meinen Lehrern gesagt hatte, dass ich nicht mehr Rugby spielen möchte, wurde mir mitgeteilt, dass ich auch meine High School verlassen müsste, da Rugby an dieser katholischen Jungenschule obligatorisch war. Nur durch den Einfluss meines Vaters, der früher Lehrer und Fußballtrainer war, durfte ich bleiben.
Sechs in Neuseeland geborene Spieler stehen im Team der Japaner
Die Struktur des Karatetrainings sagt viel über die japanische Kultur aus. Der Sport ist körperlich härter und reglementierter als Rugby. Dies ist der japanische Weg – und zwar nicht nur im Karate. Überall in der japanischen Gesellschaft ist ein ähnliches Streben nach Perfektion und Exzellenz zu finden – sei es beim Bau von Schiffen, der Herstellung von Sushi oder nun eben im Rugby. Den Sport haben sie ein Stück weit aus Neuseeland importiert. Nicht nur bildlich gesprochen: Im aktuellen japanischen WM-Team sind sechs von 31 Spielern in Neuseeland geboren. Michael Leitch und Luke Thompson sind schon lange dabei und haben im Team mit die meisten Länderspiele für Japan absolviert.
Dass so viele Menschen von Neuseeland nach Japan gekommen sind, hat seine Ursprünge in den 1980er Jahren: In wirtschaftlicher Hinsicht befand sich Neuseeland damals mitten in einer Privatisierungspolitik, die das ganze Land veränderte. Als der größte Handelspartner Großbritannien mit dem EU-Beitritt andere Märkte erschloss, brauchte Neuseeland neue Partner. Die Entwicklung und Vermarktung von Kiwis war eine Folge davon, und eine weitere wichtige Veränderung rückte Neuseeland als Reiseziel in den Fokus. Da Japan die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt geworden und uns geographisch relativ nah war, sind sie zu unserem großen Geschäftspartner geworden.
Bevor ich 1990 mein Heimatland verließ, um in Japan zu leben, hielt ich uns für viel zu sehr Rugby-orientiert. Es war für manche Menschen zu einer Religion geworden. Und als Ausgestoßener mit Interesse an Dingen in der weiten Welt war ich froh, in Ländern zu leben, in denen es mehr gab als Rugby. Inzwischen lehne ich es ab, einen Haka aufzuführen, um kulturelle Missverständnisse zu vermeiden. Das überlasse ich den Profis – die gibt es jetzt auch in Japan.
Die Japaner werden es nie aufgeben, sich zu verbessern und die Techniken bis ins kleinste Detail zu studieren. Es ist der japanische Weg, auch im Rugby. Auch wenn die halbe Nationalmannschaft nicht in Japan geboren wurde – diese Mentalität bekommst du eingeimpft, wenn du dort als Sportler lebst, trainierst und spielst. Die japanische Version von „Kamate Kamate Ka Ora Ka Ora“ gibt es längst. Der Text ist eine Ansage, vor allem an Neuseeland die kleine größte Rugby-Nation der Welt. In der japanischen Version heißt es: „Schritt für Schritt wird ihnen der endgültige Sieg gehören oder sie werden beim Versuch zu siegen sterben.“
Gerard Laracy
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